Saisoneröffnung an der Berliner Volksbühne: Je später die Geste
In seinem neuen Stück „Glanz und Elend der Kurtisanen“ kreuzt René Pollesch Balzac mit dem Soziologen Richard Sennett. Der Abend in in der Volksbühne wird zum Triumph für Birgit Minichmayr und Martin Wuttke
Pollesch, Minichmayr, Wuttke. Im Gegensatz zu honorigen Teilen der Realpolitik (wie auch zu manch anderer Kulturinstitution) startet die Volksbühne mit einem Kompetenzteam in die Saison, bei dem eigentlich nichts schiefgehen kann. Dass sich das geballte Koryphäentum zur Feier des Spielzeitauftakts erst einmal in lässiger Gymnastik ergeht, ist natürlich hintersinniges Programm: Gemeinsam mit den Kollegen Christine Groß, Franz Beil und Trystan Pütter schlenkern Birgit Minichmayr und Martin Wuttke ihre Gliedmaßen in einer Art Backstage-Choreografie, die es vom höfischen Tanz bis zum letzten Fitnessstudio-Trend an keiner künstlerischen Inspirationsquelle fehlen lässt und sicher auch für Lady Gaga gereicht hätte.
Irgendwann steht Minichmayr dann in ihrem ironisch historisierenden Zweiteiler – schwarze Edelknickerbocker, grüne Samtweste – an der Rampe und schleudert mit Empörungstremolo zwei Sätze aus sich heraus, denen man erhöhten Kernthesenverdacht unterstellen darf: „Hier im öffentlichen Raum konnte man doch mal ausdrucksvoll eine Geschichte erzählen“, redet sie manisch auf Wuttke ein. „Und jetzt meckern alle, das wäre nicht authentisch genug!“
Der in Branchenkreisen hoch gehandelte Authentizitätsfetisch, den René Pollesch ja seit jeher mehr oder weniger implizit am Wickel hat, rückt in seinem neuen Abend „Glanz und Elend der Kurtisanen“ gänzlich in den Spot. Pittoreske Nacherzählungen des üppigen Balzac-Romans, dem die Produktion ihren Titel verdankt, sind dabei nicht zu befürchten: Auch diesmal geht es Pollesch ausschließlich ums Strukturelle; um die sozialen Codes beziehungsweise öffentlichen Spiel- und Inszenierungsrituale jener Gesellschaft, die der französische Großmeister vor anderthalb Jahrhunderten beschrieb – und um ihre Differenz zu unserer (wie Pollesch nicht zu Unrecht findet) vergleichsweise armseligen Psychomasche.
Textlich stärker als Balzac ist deshalb, neben Jean-Luc Godards 1964er B-Movie-Hommage „Die Außenseiterbande“, Richard Sennett in den Abend eingeflossen, der mit seinem Theorie-Klassiker „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ Mitte der 1970er Jahre zur beklagten „Tyrannei der Intimität“ das ultimative Rüstzeug lieferte. Mit dem amerikanischen Soziologen als Gewährsmann feiert Pollesch eine Akademiker-affine Party wider die ergriffene Versenkung ins eigene Spiegelbild und alles, was sich sonst noch so unter den virulenten Imperativ „Sei du selbst“ subsumieren lässt.
„Ich muss die ganze Scheiße hier doch nicht immer mit mir selbst belegen“, schreit also Martin Wuttke, der der „Tyrannei der Intimität“ anfangs mit Brusthaartoupet, Langhaarperücke und Schimpansengebiss tatsächlich ein anschaulicheres Gesicht verleiht, als es dem Anti-Innerlichkeitsästheten lieb sein kann, um im Gegenzug wiederholt „die Schönheit der Geste im öffentlichen Raum“ zu zelebrieren.
Die wiederum hat Volksbühnen-Chefausstatter Bert Neumann in ein wirklich kongeniales Setting übersetzt. Das komplette Bühnenhalbrund ist mit Glitzerdesign im Lametta-Stil behangen, während der mit Spiegelfolie verklebte Boden das Schauspielerquintett herzlich zur Slapstick-Arbeit am narzisstischen Selbstbespiegelungsfeindbild einlädt. Zwischen diversen Rauchpausen, in denen das philosophische Fachgespräch an den Aschenbecher verlagert wird, ruft Wuttke unter dem Motto Turnübung immer wieder zur sportlichen Mythendestruktion auf.
Überhaupt ist „Glanz und Elend der Kurtisanen“ Wuttkes Abend. Lohnen würde sich der Volksbühnenbesuch schon allein wegen seines ballettösen Duetts mit einem Heißluftballon, den er zunächst mit wunderbar unterspielter Innerlichkeitsironie umtänzelt und anschließend geradezu liebevoll im Priesterkostüm des Balzac-Helden Herrera entert, um ihm nach einigen Flugrunden schließlich ernsten Gesichtes im dienstmagdtauglichen Damenkostüm zu entsteigen.
Und sonst, von Minichmayrs kongenialer Bühnenpräsenz abgesehen? René Pollesch liefert zum Spielzeitauftakt auch viel Routine; und seine anderthalbstündige Variation der immergleichen These kommt nicht ohne Längen aus. Trotzdem: Wenn man Sennetts knapp vierzig Jahre alten Gesellschaftsbefund, der unter Originalitätsgesichtspunkten niemanden mehr vom Hocker reißen dürfte, so konsequent wie Pollesch aufs Theater anwendet, gewinnt sie einen äußerst bereichernden Meta-Witz. Schließlich kennen wir ja alle diese schwer selbsttrunkenen Veranstaltungen, gegen die Pollesch hier lustig zu Felde zieht: diese unzähligen Abende, an denen die griechische Antike uns angeblich so nah ist wie der Bundestagswahlkampf und wir deshalb mit der vermeintlichen Altrockerin Klytemnästra Tür an Tür wohnen sollen!
Und in diesem Zusammenhang bekommt dann natürlich auch Polleschs auf den ersten Blick leicht manieriert wirkende Idee, als Begleitmaterial zur Inszenierung ein Programmheft mit vielen leeren Seiten herauszugeben („Der erläuternde Programmzettel“, steht bei Sennett, entspreche genau jenem „Publikumsbedürfnis, das im Theater auf unmittelbare Durchschaubarkeit Wert“ lege), lustigen Hintersinn. Von der zunehmenden Auslagerung inspirierenden Gedankenguts aus dem Bühnenprozess in den obligatorischen Beipackzettel können Freunde der darstellenden Kunst ja nicht nur ein Lied singen.
Insofern hat die Volksbühne unter den Bühnen-Vögeln, die bis dato zum Berliner Saisonstart so unterwegs waren, dann doch den größten abgeschossen.
Wieder am 15. und 28.9., 19.30 Uhr.
Christine Wahl
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