Im Sturm der Geschichte: Mit Lutz Seiler auf den Spuren seines Romans "Stern 111"
Lieber in der "Assel" als im "Obst und Gemüse": Der Schriftsteller Lutz Seiler hat mit "Stern 111" einen großen Wenderoman geschrieben. Eine Ortsbegehung.
Die Schankwirtschaft „Seeblick“ in der Rykestraße ist gut gefüllt an diesem trüben, kalten Februartag. Die Mittagsgäste sitzen an großen, runden Holztischen und schätzen hier die „gute deutsche Küche“, wie es an einem Schild rechts von der Eingangstür steht, „seit 1993“.
Es sind alteingesessene Prenzlauer-Berger genauso wie zugezogene Kreative oder Angestellte aus den Architektur- und Designbüros in den Straßen rund um den Kollwitzplatz. Der Schriftsteller Lutz Seiler ist lange vor der verabredeten Zeit gekommen. Er habe hier gegessen, sagt Seiler bei der Begrüßung, in dieser Gegend des Prenzlauer Berg gehe er immer in den „Seeblick“.
Gleich darauf fragt er schon, ob man den Künstler Clemens Wallrodt kenne und wüsste, dass im Haus neben dem „Seeblick“ früher der Kunstverein „ACUD“ seine Heimstatt gehabt habe? „Clemens Wallrodt war der Erste, der dort ausgestellt wurde, später gehörte er zu den Besetzern des Tacheles. Er wurde 1995 auf dem Rückweg von einer Ausstellung in Paris bei einem Autounfall von seinen eigenen Kunstwerken erschlagen.“
Seiler hat Anfang der neunziger Jahre in der Rykestraße gewohnt
Seiler, der zwischen Wilhelmshorst, wo er das Peter-Huchel-Haus leitet, und Stockholm pendelt, wo er mit seiner Frau wohnt, war in den vergangenen Jahren häufiger in der Rykestraße.
Mit „Stern 111“ (Suhrkamp, 526 S., 24 €) hat er gerade einen Roman geschrieben, in dem das Haus in der Rykestraße 27 eine wesentliche Rolle spielt. Er selbst hat hier Anfang der neunziger Jahre gewohnt.
Hauptfigur des Romans ist ein junger, 27, 28 Jahre alter Mann, Carl Bischoff, der wie Seiler aus Gera stammt, in Halle studiert hat und im Dezember 1989 nach Berlin kommt, mit dem Shiguli seines Vaters, in dem er die ersten Tage nächtigt, in der Linienstraße.
Der Grund für den fast überstürzten Aufbruch nach Berlin: Seine Eltern haben ihn quasi verlassen, haben alles stehen und liegen gelassen in Gera und sind in den Westen: „Irgendwo da draußen tobte die Geschichte, und mitten in diesem Treiben irrten seine Eltern umher.“
Wie die Eltern von Carl im Westen umherirren, wo sie landen, das erzählt Seiler auf der einen Ebene seines vielschichtigen Wenderomans. Und zum anderen geht es um die Geschichte von Carl, der sich im Folgenden hauptsächlich zwischen Kollwitz-Kiez und der Oranienburger Straße in Mitte herumtreibt.
Carl gerät in die Ostberliner Hausbesetzerszene, in eine Szene zwischen Pop, Party und Politik, beginnt in der „Assel“, einer Kneipe in der Oranienburger Straße, zu kellnern und versucht vor allem, Gedichte zu schreiben.
Es geht in Läden wie die "Krähe" und die "Assel"
Lutz Seiler betont, noch im „Seeblick“ sitzend, wie wichtig ihm die Authentizität der Orte gewesen sei, bestimmte Details, an die er sich erinnere. „Das sind die Edelsteine, die im Gewebe des Textes eine große Strahlkraft haben.“ Und fügt sofort an, dass sich jedoch beim Schreiben alles verändere: „Die Literatur folgt eigenen, komplett anderen Gesetzen.“
Ihm ist spürbar wichtig, das zu sagen, vorauszuschicken, bevor es in die Vergangenheit geht, in die eigene und in die seines Protagonisten. Carl Bischoff ist Seilers alter Ego, in der Figur steckt viel von ihm selbst, und doch hat Seiler einen Roman geschrieben und sich viele Freiheiten genommen.
„Stern 111“ hat die Anmutung einer Autofiktion. Aber in seiner Tiefenstruktur ist dieser Roman ein durch und durch literarischer Text: voller großartiger Bilder, Einfälle und Stimmungen, voller surrealer Überhöhungen und dunkler Farben, voller alter Schreibmaschinen oder Radios, so wie das titelgebende Transistorgerät Stern 111, das zu DDR-Zeiten die Bischoffs in ihrem Alltag begleitete.
Und klar, „Stern 111“ dreht sich hauptsächlich um Carl und seine Eltern, besitzt aber viele eigenwillige Nebenfiguren, gewissermaßen die Clemens Wallrodts dieser Zeit, die Jörg Schiekes oder Arielles, Carls feenhafte Nachbarin.
Es geht tief in eine Zeit und eine Szene, die sich damals hier tummelte, in Läden wie der „Krähe“, dem „Café Westphal“ oder der „Kommandantur“, alle im Prenzlauer Berg, oder es geht in Mitte in den „Jojo-Club“, das „theater 89“ und natürlich in die „Assel“.
Lutz Seiler wird in den folgenden zwei Stunden auf dem Weg durch den Prenzlauer Berg und Mitte Geschichten von einer Reihe von Leuten erzählen, die er hier Anfang der neunziger Jahre gekannt oder mit denen er zu tun gehabt hat.
Vor der Rykestraße 27, wo das im Roman oft genannte „Bombenwäldchen“ durch einen Neubau ersetzt wurde (das Vorderhaus fiel 1945 den Bomben der Alliierten zum Opfer), hier also fällt Seiler zum Beispiel ein, dass es ein paar Häuser weiter einen Plattenladen gegeben habe, „Freak Out“.
Der Betreiber, der den Laden 1990 eröffnete, sei „speziell“ gewesen, „aber man schätzte ihn trotz seiner eher wortkargen Art. Der Laden hatte etwas Stübchenhaftes, war aber eine Institution, voller Schallplatten, die man haben wollte“.
Auch die „Freak-Out“-Aushilfe kennt Seiler, den Dichter Henryk Gericke. „Ich mochte die Sachen sehr, die er geschrieben hat, und hab mit ihm im Café Clara in der Zetkinstraße eine meiner ersten Lesungen gemacht.“
„Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.“
Vor dem Haus Nummer 16 in der Wörther Straße schaut er sich die Klingelschilder genau an. Hier hat damals seine Freundin gewohnt, genau hier wohnt auch im Roman Carl Bischoffs Freundin Effi. „
Ja, die Franzens sind noch da, wie schön. Aber wieso steht dahinter jetzt noch ein anderer Name? Bei meiner Recherche war ich noch mal drin im Hof, um die Kastanie zu sehen. Sabeth Vilmar, die Betreiberin des Buchladens nebenan, hat mir den Hof noch einmal gezeigt.“
Seiler hat für „Stern 111“ nicht nur viele Leute von damals getroffen und sich mit ihnen an die Zeit erinnert. Er hat sich auch eine große Zahl von Fotografien angesehen, insbesondere die seines Nachbarn in der Rykestraße, eines Fotografen, der im Roman „So-nie“ heißt. Er holt eine Mappe mit lauter alten Abzügen aus seiner Tasche und zeigt ein Foto von sich als jungem Mann, „das ist gewissermaßen mein erstes Autorenfoto“.
Ganz leicht ist es nicht, ihn darauf wiederzuerkennen, so wie er jetzt neben einem hergeht mit seinem offenen, freundlich blickenden Gesicht, den kurzen grauen Haaren und in einem langen grauen Mantel mit Fischgrätenmuster.
Aber die Beschreibung im Roman trifft das Foto sehr genau: „...das lange, wirre, nur halb gekämmte Haar, die Lederjacke, die Zigarette in der Hand, die weichen ernsten Wangen (irgendwie einsam, aber nicht leidend), das Schwarz unter den Fingernägeln, wahrscheinlich vom Kohlenausgraben, und dann: dieser Schnauzbart, seine zählbare Anzahl pubertärer Härchen, die alles (einfach alles) lächerlich machten".
Lutz Seiler hat „Stern 111“, der nicht nur ein Szene- und Wenderoman, sondern eben auch ein Bildungsroman ist, ein Zitat aus Rilkes „Malte Laurids Brigge“ vorangestellt: „Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.“ Aus Seiler ist nun, vielleicht wirklich etwas spät, ein gestandener Lyriker geworden, einer der bedeutendsten im Land. Und nun eben auch: Romancier.
Seiler gewann 2014 mit "Kruso" den Deutschen Buchpreis
1995 erschien im Oberbaum Verlag sein erster Lyrikband „berührt/geführt“, fünf Jahre später veröffentlichte der Suhrkamp Verlag erstmals Gedichte von ihm, „pech & blende“. Weitere Lyriksammlungen folgten, dazu erste Erzählungen; mit einer von diesen gewann er 2007 den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Als Seiler sich dann an seinen ersten Roman setzte, der 2014 veröffentlicht wurde, der kurz vor der Wende angesiedelte Hiddensee-Aussteiger-Roman „Kruso“, bekam er dafür den Deutschen Buchpreis zugesprochen.
Damals sprach er in Interviews davon, dass er eigentlich einen Berlin-Roman habe schreiben wollen, an diesem aber gescheitert sei. „Stern 111“ ist nun dieser Roman, der prompt für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.
Dass er Seiler doch gelungen ist, liegt nicht zuletzt an dem Einzug der zweiten Ebene mit den Eltern. Fragt man ihn, ob es sich wirklich so zugetragen hat mit deren „Flucht“ in den Westen zwei Tage nach dem Mauerfall, bestätigt er das. Anstatt sich hierüber weiter auszulassen, kommt er lieber auf die technischen Probleme zu sprechen, die er beim Schreiben der Eltern-Geschichte hatte, auf seine „erzähltechnische Weiterbildung“.
Tatsächlich gleitet man mittels der Briefe, die Inge Bischoff ihrem Sohn schreibt, Briefe über ihre Jobs, Wohnungen und Erlebnisse in Städten und Orten wie Gießen, Rheine, Diez und Gelnhausen, fast unmerklich von der auktorialen Erzählperspektive, von der Carl-Perspektive in die der Mutter. Seiler erwähnt, wie viel er von einem Autor wie Roberto Bolaño gelernt habe.
Wir befinden uns inzwischen auf der Kollwitzstraße, kurz vor dem Haus, wo die „Krähe“ war, seine alte Stammkneipe, in deren einstigen Räumen jetzt ein japanisches Restaurant beheimatet ist, das „Chotto“. „Wer kehrt denn hier ein?“, fragt Seiler befremdet. Das Befremdliche beruht auf Gegenseitigkeit. Im „Chotto“ schaut das Personal irritiert, als der Schriftsteller zeigt, wo er seinerzeit am liebsten gestanden hat.
Allein an der Theke, „hinter der Kaffeemaschine“, wie es auch im Roman heißt, mit Blick zum Eingang. Er erzählt, dass er hier einen der größten Fehler seiner kurzen Barkeeperkarriere gemacht habe, nämlich im eigenen Stammladen zu arbeiten, da sei manche Rechnung unbezahlt geblieben.
In der "Assel" werden jetzt italienische Designermöbel verkauft
Am alten „Westphal“ vorbei (lange ein Italiener, jetzt über ein Jahr schon leerstehend) geht es, mit einem Abstecher zur einstigen „Kommandantur“ (heute ein Indonesier, das erste Restaurant seit der Wende, das in diesem Haus gut funktioniert) und einem Blick auf den weiterhin existierenden „Kommandantur“-Schriftzug über dem Eingang, schließlich nach Mitte, zur „Assel“, dem wichtigsten Schauplatz des Romans.
Hier werden jetzt italienische Designermöbel verkauft. Der Gegensatz zu der sich einst in der „Assel“ tummelnden Gesellschaft könnte nicht größer sein; zu einer Romanfigur wie Hoffi, „dem Hirten“, mit seiner Ziege, die hinten in einem Schuppen gemolken wurde, bis hin zu den Prostituierten der Oranienburger Straße, die in der „Assel“ ihre Umkleiden hatten.
Ob das wirklich so war? Seiler schaut ein wenig indigniert. „Natürlich nicht. Aber die Prostituierten hatten in der ,Assel‘ ihren Stammtisch, sie waren hier quasi zu Hause während der Arbeit.“
Er kommt dann auf die verschiedenen historischen Zäsuren in der kurzen Zeit in den frühen neunziger Jahren zu sprechen, die sich gerade vor dem Hintergrund der „Assel“ mit ihrem wechselnden Personal, ihrer wechselnden Kundschaft, so gut abbilden ließen.
Auf die Frage, ob er das „Obst und Gemüse“ am anderen Ende der Oranienburger Straße kenne, antwortet er mit einem Nicken, klar. Aber dort sei er nie reingegangen, „das war ja mehr so eine schicke Szene, Trittbrettfahrer und Westberliner, die auf einmal alle kamen. Die fanden sich cool, wenn sie im ,Obst und Gemüse‘ saßen. Gegen diese ganze komische Stimmung von Coolness und Versnobtheit hatte man etwas.“
Er lacht, als ich ihm sage, dass ich so ein „Obst und Gemüse“-Geher war. Und weist darauf hin, dass das, was sich im ganzen Land abgespielt hat - der Gegensatz von den sich überlegen fühlenden Westlern und den erst einmal ihre Freiheit auskostenden Ostlern – in der Hausbesetzerszene nicht anders war:
Die Hausbesetzer aus dem Westen wussten auch alles besser
„Die kamen hier rüber und wussten genau, wie es geht: Wie besetzt man ein Haus, was kommt auf die Transparente, wer sind die Feinde, was kann man verkaufen. Dieses Okkupantentum halt. Deshalb haben sich in manchen besetzten Häusern im Osten die Leute geschützt, die wollten ihre Häuser für sich behalten, unter sich bleiben, Party machen, nicht gegen die Bullen und den Staat kämpfen.“
Die Figuren dieser Szene in Seilers Roman wirken allesamt spielerisch, naiv, unverbissen, mit Utopien im Kopf, von denen sie wissen, dass sie diese nie umsetzen werden. Ob sie geahnt haben, dass Mitte einmal so aussehen würde wie jetzt: gentrifiziert, teuer, touristisch? Seiler wundert sich, dass es trotzdem so lange gedauert hat mit der Umwandlung des Bezirks, der Modernisierung.
Um die einstige „Assel“ sind keine Spuren von früher mehr zu erkennen. Der Krausnick-Park ist hübsch, ruhig, hier schieben junge Eltern ihre Kinderwagen durch.
Seiler sieht die Veränderungen entspannt. Er sei sowieso kein Großstädter, im Alter würde sich seine ländliche Prägung – er wuchs auf dem Dorf auf – zunehmend bemerkbar machen.
Sein Roman jedoch habe ihm Berlin wieder sehr nahe gebracht: „Durch die Arbeit daran habe ich die Stadt wieder ins Herz schließen können. Ich habe sie zurückgeholt in mein Leben.“
Dann setzt er sich in sein Auto, natürlich kein Shiguli mit orangenem Dach und Seitenstreifen wie der von seinem Vater, sondern ein älterer silberner Mercedes. Er hat noch einen Termin in Pankow und verabschiedet sich: „Wir sehen uns im ,Seeblick‘!“
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