Teodor Currentzis im Radialsystem: Mit beiden Händen im dampfenden Leben
Dirigent Teodor Currentzis hat sein Rameau-Programm mit nach Berlin gebracht. Damit beweist er unbedingten Willen zum Ausdruck - und versetzt das Publikum in Ekstase.
Kurzfristig wurde er in den Tourneeplan eingeschoben, der Berliner Zwischenstopp von Teodor Currentzis und seinem russischen Barockorchester Musicaeterna. Und doch ist das Radialsystem erwartungsvoll gefüllt, ergießen sich Zuhörerströme über die wenigen Stühle und Sitztonnen sowie ein Meer von Matten auf dem Saalboden. Nein, das soll ganz bestimmt kein normales Konzert werden. Hausherr Jochen Sandig lässt es sich nicht nehmen, Tänzerinnen und Tänzer von Sasha Waltz hinzu zu drapieren, mit im Körperknäuel auch die beiden gemeinsamen Kinder. Den musikalischen Besuch aus dem fernen Perm umfängt Stallwärme, die die Neugier in vertraute Bahnen leitet. Das ist schade, denn Currentzis gehört zu den spannendsten Figuren der Klassikwelt.
In der östlichsten Stadt Europas hat er sich Arbeitsbedingungen ertrotzt, von der Berlins Freie Szene nur träumen kann. Alles dient der Musik, ob nächtliche Proben oder Tanzunterweisungen für die vollbezahlten Musiker. Wann ein Werk reif für die Premiere ist, entscheidet Currentzis allein: ein hochgewachsener Mann mit anrasierter Punkfrisur, fesselnden Augen und endlosen Armen im Rüschenhemd.
Currentzis' unbedingter Wille zum Ausdruck
Nach Berlin haben er und seine Musiker ein reines Rameau-Programm mitgebracht, das den Rahmen ihrer aktuellen CD noch kammermusikalisch weitet. Obwohl Musicaeterna mit historischer Spielpraxis vertraut ist, wird hier keine Kost für feingeistige Barockspezialisten gereicht, sondern kräftig mit beiden Händen ins dampfende Leben gegriffen. Dabei geht naturgemäß manches schief: Die breite Ensembleaufstellung an der Querseite des Raumes reißt Löcher in den Klang, lässt Impulse wie bei Stiller Post nicht immer durchdringen.
Doch was heißt das schon angesichts dieses unbedingten Willens zum Ausdruck: Für jedes Teilchen aus dem Rameau-Universum finden Currentzis und seine Musiker eine andere Ausleuchtung. Mal erscheinen sie unerbittlich harsch, dann traumblau oder auch minimalistisch modern, den Sound in Schleifen gelegt, während die Musiker sich spielend auf den Weg in die Pause machen.
Ekstase scheint hier machbar
Wer Musik mit Bildern versehen will, bewegt sich immer auf schmalem Grat. Im Radialsystem bleibt den Tänzerinnen und Tänzern von Sasha Waltz ein enger Korridor zwischen Orchester und lagernden Zuhörern für – ja, was eigentlich? Sandigs Zurichtung vertraut nicht gänzlich auf Improvisation, legt aber auch keine inspirierenden Grenzen fest. Das Ergebnis ist von peinigender Verbogenheit.
Dagegen wirkt die Einladung zur Polonaise nach Apfel- und Weintraubengenuss direkt motiviert. Ein weißhaariger Zuhörer, dessen T-Shirt das Hundertwasser- Motto „Die gerade Linie ist gottlos“ ziert, tanzt entfesselt vor den Musikern auf und ab. Ekstase scheint machbar, auch, wenn das Publikum danach in Tänzerarme genommen werden muss. Echte Wagnisse hingegen geht Teodor Currentzis’ Sopranistin Nadine Koutcher ein. Sie formt ihre Stimme zum verletzlichsten aller Instrumente, geht unter im Klang, taucht wieder auf: leuchtend, entrückt und unglaublich nah.