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Michelle Obama bei einer Wahlkampfveranstaltung im Jahr 2016.
© NICHOLAS KAMM/AFP

Autobiografie "Becoming": Michelle Obama – die Präsidentin der Herzen

Sie will nicht für das höchste Amt im Staat kandidieren. An diesem Dienstag erscheint Michelle Obamas Autobiografie „Becoming“ – mit Klartext über Donald Trump.

Rund 25 Minuten sind vorbei, da stockt Michelle Obama in ihrer Rede. Gerade hat sie gesagt, wie wichtig es sei, andere zu motivieren, rauszugehen und Leute zu finden. Da ruft jemand etwas dazwischen, und es wird laut in der Sporthalle. Die Menge fängt an zu klatschen, zu johlen und zu kreischen. Auf der Bühne muss Michelle grinsen, sie setzt dann mehrfach an: „Wisst ihr, wir brauchen euch, Leute“. Und im Publikum rufen sie immer wieder: „Wir brauchen dich, wir brauchen dich!“ Sie lacht: „Ihr hört jetzt auf mit dem Quatsch.“

Wahlkampf für die Midterms in der Chaparral High School in Las Vegas. Michelle Obama spricht von der Pflicht, wählen zu gehen, um das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen, davon, wie wichtig es sei, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen, sich zu engagieren. Dass es manchmal nur 50 Stimmen seien, die in einem Wahlkreis darüber entscheiden, wer der nächste Präsident, der nächste Senator, die nächste Abgeordnete wird. Und dann sagt sie: „Wenn wir alle wählen gehen, stellt euch vor, welchen Anführer wir da wählen könnten!“

Dass Michelle Obama, geboren als Michelle LaVaughn Robinson, First Lady von 2009 bis 2017, eines Tages selbst als Präsidentschaftskandidatin der Demokraten ins Rennen gehen wird, hat sie mehrfach ausgeschlossen. Und doch ist es jedes Mal wieder eine Schlagzeile wert, wenn sie genau das wiederholt.

Welcher Typ des Amerikaners taugt zum nächsten Präsidenten?

Um zu verstehen, warum die 54-jährige Ex-First-Lady das Objekt solcher Sehnsüchte verkörpert, muss man sich den Zustand der Opposition in den USA vor Augen führen. Dass Hillary Clinton 2016 gegen Donald Trump verloren hat, verstehen viele bis heute nicht, die einstige Präsidentschaftskandidatin selbst wohl am allerwenigsten. Und bei der Frage, wer denn nun bei der nächsten Wahl, die in 24 Monaten ansteht, den amtierenden Präsidenten herausfordern könnte, der bereits erklärt hat, wieder anzutreten, stößt man derzeit im politischen Washington auf große Ratlosigkeit.

Zu früh, hieß es lange, erst nach den Midterms werde sich ein Kandidat herausschälen, das Ergebnis werde zeigen, welcher Typ erfolgreich war und es auch in zwei Jahren sein kann. Frau, Mann, progressiv und links oder moderat und wirtschaftsfreundlich, von den großen Städten an der Küste oder doch eher jemand vom Land oder aus den Vorstädten der Ballungszentren.

Nun sind die Midterms vorbei, die Ratlosigkeit ist geblieben. Ein klares Bild haben die Wahlen nicht gezeichnet. Im Gegenteil. Es gibt strahlende Shootingstars wie die New Yorkerin Alexandria Ocasio-Cortez, die locker ihr Abgeordnetenmandat geholt hat, aber vielen als viel zu links gilt. Und es gibt enttäuschte Hoffnungsträger wie den Texaner Beto O’Rourke, der es nicht geschafft hat, den Senatssitz von Ted Cruz zu erobern, dem aber weiterhin Großes zugetraut wird.

„Ein intimes Gespräch mit Michelle Obama“

Auf der anderen Seite sind da noch die Urgesteine wie Barack Obamas ehemaliger Vizepräsident Joe Biden, dem trotz seiner 75 Jahre viele zutrauen, von der Demokratischen Partei nominiert zu werden, wenn er denn nur antritt, oder der Milliardär und ehemalige Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg. Auch erfahrene Senatorinnen wie Kirsten Gillibrand, Kamala Harris, Amy Klobuchar und Elizabeth Warren haben Interesse. Aber noch ist völlig unklar, auf wen sich die Partei verständigen könnte, und vor allem, wer es mit welcher Strategie in der Hand hätte, Donald Trump zu schlagen.

Und nun, eine Woche nach dieser Wahl, die keine Klarheit geschaffen hat, erscheint an diesem Dienstag die Autobiografie von Michelle Obama. Sie erscheint gleich in mehreren Sprachen, schon jetzt ist klar, dass es ein internationaler Bestseller wird. In zwölf Großveranstaltungen, die kurioserweise als „Ein intimes Gespräch mit Michelle Obama“ angepriesen werden, wird sie mit Prominenten wie Oprah Winfrey oder Reese Witherspoon einen Monat lang ihr Buch vorstellen, wie ein Rockstar geht sie auf Tour.

Karten für ihre Lesung waren innerhalb von Sekunden weg

An diesem Samstag tritt sie zum Beispiel mit der früheren Beraterin ihres Mannes Valerie Jarrett in der Capital One Arena in Washington auf, die Karten verkauften sich rasant, die für 29,50 Dollar waren innerhalb von Sekunden vergeben, am Sonntag gab es nur noch acht Karten für mehr als 600 Dollar. Wer tief in die Tasche griff, konnte für rund 3000 Dollar auch ein Ticket in den ersten Reihen kaufen, bei dem es vor Veranstaltungsbeginn unter anderem eine Selfie-Option mit Michelle gibt und ein signiertes Buchexemplar. Das 20.000-Zuschauer fassende Stadion in der Hauptstadt, Heimat des Erstliga-Eishockey-Teams Washington Capitols, wird bis in die letzten Ränge besetzt sein.

Schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin gelangten Teile des Inhalts an die Öffentlichkeit, wie es bei mit Spannung erwarteten politisch-brisanten Büchern meistens der Fall ist. Ein politisch-brisantes Buch von einer ehemaligen First Lady?

Das Buch handelt von Michelle Obama, nicht von ihrem Mann

„Becoming“ lautet der Titel der Autobiografie, was etwas sperrig mit „Werdung“ übersetzt werden kann. In der deutschen Ausgabe ist dem englischen Originaltitel noch der Zusatz „Meine Geschichte“ beigefügt. Der Leser soll auf den ersten Blick verstehen: Es ist ihr Buch, es geht um sie und einmal nicht um ihren Mann. Nach vielen Jahren an der Seite eines erfolgreichen Berufspolitikers ist es das erste Mal, dass Michelle Obama ihre eigenen Ziele verfolgen kann, unabhängig vom Rest ihrer Familie, die Töchter sind selbstständig. „Und hier bin ich“, schreibt sie, „an diesem neuen Ort, und ich habe vieles zu sagen.“

Was sie zu sagen hat, ist nachrichtenträchtig. Michelle Obama schildert in „Becoming“, wie sie zu der Frau wurde, der heute zugetraut wird, die erste Präsidentin zu werden. Sie beschreibt, wie ihre Kindheit in den 1960er Jahren sie für ihr Leben prägte. Geboren im Süden von Chicago, einer Gegend, in der damals vor allem Afroamerikaner lebten, wächst sie als Arbeitertochter auf, der Vater repariert Boiler, die Mutter verdient als Sekretärin Geld dazu, sobald Michelle und ihr Bruder Craig in die Schule kommen. „Wir waren arm“, sagt Michelle Obama bei ihrem letzten Doppelinterview mit ihrem Mann im Weißen Haus. Aber ihre Eltern Fraser und Marian Robinson legen Wert auf eine gute Ausbildung, damit die Kinder es einmal besser haben, ein Lebensmotto, das Michelle gerne zitiert.

Politik ist nichts für sie

An der Eliteuniversität Princeton, wo ihr erstmals so richtig bewusst wird, was Schwarzsein bedeutet, studiert sie Soziologie, in Harvard dann Jura. Nach ihrem Examen 1988 arbeitet sie als Rechtsanwältin bei der Kanzlei Sidley Austin in Chicago, wo sie sich schon bald als Mentorin um einen jungen Hospitanten namens Barack Obama kümmern soll. 1991 nimmt sie eine Stelle in der Stadtverwaltung von Chicago unter dem Bürgermeister Richard M. Daley an. Ein Jahr später heiratet sie Barack. An der Seite ihres Mannes muss sie lernen, Familienleben und Politik unter einen Hut zu bekommen und zu einer öffentlichen Person zu werden, immer voll dem Rampenlicht der öffentlichen Kritik ausgesetzt. All das bestärkt sie in ihrer Haltung, dass Politik nichts für sie ist.

„Ich sage es hier ganz direkt: Ich habe keine Absicht, jemals für ein politisches Amt zu kandidieren. Ich war nie ein Fan von Politik, und meine Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre haben daran nichts geändert“, heißt es in „Becoming“. Bereits im November 2000, als ihr Mann das Rennen um einen Sitz im Kongress verliert, sagt sie, das Einzige, was ihr am Wahlkampf Spaß gemacht habe, war, sich aus den Wohnzimmern anderer Menschen Inspirationen für ihre Inneneinrichtung zu holen.

Die Rechte von Frauen liegen ihr am Herzen

Und doch, da ist auch die andere Michelle. Die Ungerechtigkeiten wütend machen und die daraus auch keinen Hehl macht. Die Michelle, die sich leidenschaftlich für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzt, oder eindringlich dafür wirbt, wählen zu gehen. Da steht sie auf der Bühne, groß und stark, perfekt gestylt, schwarze 7/8-Hose, weißes T-Shirt, die langen dunklen Haare elegant glatt geföhnt, große silberne Ohrringe. Michelle Obama ist immer noch eine Modeikone, ein Idol für viele Frauen, längst nicht nur für Afroamerikanerinnen.

Das Besondere an ihr war schon immer, dass man alle Gefühle an ihrem Gesicht ablesen kann, den Ärger oder die Freude, die Begeisterung. Was man nie sieht, ist Gleichgültigkeit. Ihr Lachen ist laut und ansteckend, und wenn ihr danach ist, streckt sie auch mal die Zunge heraus. Sie leidet unter der politischen Situation in ihrem Land, unter der Spaltung der Gesellschaft und dem offen zutage tretenden Rassismus. Dass sie das so deutlich anspricht und auch Schuldige benennt, ist neu.

Michelle Obama greift Donald Trump direkt an

In ihrem Buch greift sie Donald Trump direkt an und kritisiert ihn dafür, die Verschwörungstheorie verbreitet zu haben, Barack sei gar nicht als Amerikaner geboren worden und deshalb auch kein rechtmäßiger Präsident. „Diese ganze Sache war verrückt und bösartig, die darunterliegenden Vorurteile und die Fremdenfeindlichkeit waren kaum verhüllt. Aber es war auch gefährlich“ und sollte „die Verrückten anstacheln“, schreibt Michelle. Sie habe sich um die Sicherheit ihrer Familie gesorgt. „Was, wenn jemand, der psychisch instabil ist, eine Waffe laden und nach Washington fahren würde? Was, wenn diese Person sich auf die Suche nach unseren Mädchen machen würde? Donald Trump gefährdete die Sicherheit meiner Familie mit seinen lauten und verantwortungslosen Unterstellungen. Und das werde ich ihm nie verzeihen.“

Michelle Obama hat aber keine politische Anklageschrift produziert, sondern eine Beschreibung ihres Lebens mit all seinen Schwierigkeiten. Und das tut sie erstaunlich offen. Zum Beispiel als sie erzählt, wie sie sich nach einer traumatischen Fehlgeburt für künstliche Befruchtung entschieden haben. Und dass sie auch mal einen Eheberater einschalten mussten. Auch wir sind nicht perfekt, lautet die Botschaft. Aber man kann Schwierigkeiten überwinden.

Eine Frau, mit der alle befreundet sein wollen

Nichts weniger als Perfektion sehen Michelle Obamas größte Fans in ihr. So schreibt die Autorin Veronica Chambers in dem von ihr herausgegebenen Sammelband „The Meaning of Michelle“ darüber, dass Michelle Obama als erste schwarze First Lady für Frauen wie sie alles verändert habe. Sie sei eine Frau, die so authentisch sei und so sehr im Einklang mit sich selbst stehe, sich „wohl in ihrer Haut fühle“, dass sie ein riesiges Vorbild sei. Sie sei die Frau, mit der alle befreundet sein wollten.

In der National Portrait Gallery in Washington hängen im zweiten Stock die Porträts aller bisheriger Präsidenten. Sie sind ein Publikumsmagnet, die Amerikaner lieben es, ihre ehemaligen Staatsoberhäupter zu bewundern, vor Barack Obamas Bild gibt es meist eine Selfie-Jäger-Schlange. Ein Stockwerk höher hängen weitere Porträts, unter anderem das spektakuläre von Michelle Obama in dem ärmellosen schwarz-weißen Kleid. Wenn der Eindruck nicht trügt, wollen kaum weniger Menschen ein Foto mit ihr, sie wollen der ersten afroamerikanischen First Lady nahe sein, von der so viele hoffen, dass sie eines Tages doch noch die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten werden will.

Michelle Obama: „Becoming. Meine Geschichte“. Goldmann, 544 Seiten, 26 Euro.

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