Interview nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo": Michel Houellebecq: "Freiheit muss provozieren"
Ein einziges Interview hat Michel Houellebecq, Autor des Romans "Unterwerfung", nach den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" gegeben - dem französischen TV-Sender Canal plus. Lesen Sie hier den kompletten Wortlaut, ins Deutsche übersetzt.
Geführt wurde das Gespräch am Donnerstag für die Talkshow „Le Grand Journal“ des französischen TV-Senders „Canal plus“ – nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ vom Mittwoch und vor dem Anschlag auf den koscheren Supermarkt am Freitag: Es ist das einzige Interview, das der Schriftsteller Michel Houellebecq in diesen Tagen gegeben hat. In dem elf Minuten dauernden Gespräch, das „Canal plus“ in seiner kompletten Elf-Minuten-Fassung erst am Montag abend online gestellt hat, ist ein bewegter und zurückhaltender Houellebecq zu erleben, der auf Ironie weitgehend verzichtet. Wir drucken das Interview mit freundlicher Genehmigung des Senders nach. Es ist auch insofern ein ungewöhnliches Dokument, als Houellebecqs Roman „Soumission“ am Mittwoch, exakt dem Tag des Anschlags auf „Charlie Hebdo“, in die französischen Buchhandlungen kam. In der darin entworfenen Vision eines Frankreich von 2022 setzt sich bei den Präsidentschaftswahlen ein islamischer Kandidat gegen die Front-National-Anführerin Marine Le Pen durch und etabliert einen gemäßigten Gottesstaat. jal
Guten Abend, Michel Houellebecq. Zunächst möchte ich gerne wissen, ob auch Sie heute „Charlie“ sind?
Ja. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass jemand, den ich sehr gemocht habe, ermordet worden ist...
... Sie sprechen von dem Wirtschaftswissenschaftler Bernard Maris ...
... ja, und wir beide sollten Ende März an einer Debatte teilnehmen, er schrieb an einem Buch über Frankreich, „Das süße und das bittere Frankreich“. Ich hoffe (er schluckt, spricht mit rauher Stimme weiter), das Buch ist weit genug gediehen, dass man es so veröffentlichen kann.
Bernard Maris hatte ein Buch über Sie geschrieben „Houellebecq économiste“. Waren Sie überrascht, dass ein derart renommierter Wirtschaftswissenschaftler sich mit Ihren so insistierenden Kommentaren zum Ultraliberalismus beschäftigt?
Ja, das war eine Auseinandersetzung, von der ich selber nicht zu träumen gewagt hätte. Es ist ein sehr gutes Buch. Und er ist ein sehr freundlicher Mensch gewesen. Er war zum Beispiel schon ein bisschen spät dran mit seinem Manuskript über Frankreich, aber er hat sich die Zeit genommen, in dieser „Charlie Hebdo“Ausgabe über meinen Roman zu schreiben. Als ich erfahren habe, dass er tot ist, hatte ich nicht den Mut, seinen Artikel zu lesen.
Sie stehen ja mit einer Karikatur auf dem Titelbild. Wie haben Sie diesen Titel interpretiert?
Sie ist nicht schlecht (lächelt). Nun, ich hab jetzt nicht alle Titel angeguckt, die vielleicht besser sind.
Ist es eine Ehre, auf dem Titel von „Charlie Hebdo“ zu stehen?
Ja, sicher. Cabu hat mich oft im Visier gehabt, manchmal, ja, oft war das komisch. Mein Lieblingsstück war ein langer, ungewöhnlicher, entlegener Beitrag, aber das ist lange her.
Wir sprechen von der Tragödie am Mittwoch. Bernard Maris hat sein Leben verloren, wie andere ...
… einige andere …
… und ich denke an „Charlie Hebdo“, das immer ein provozierendes Medium war – und das ist es ja weiterhin –, und Sie selber gelten als literarischer Provokateur. Gibt es da einen Berührungspunkt?
Ja, die Freiheit. Es geht vor allem um Freiheit. Freiheit ist oft provozierend. Ohne eine Dosis Provokation geht sie nicht.
Ihr Buch „Unterwerfung“ ist ein Roman. Andererseits antizipiert es einen gesellschaftlichen Zustand. Stellt sich da, in einem Kontext hoher sozialer und wirtschaftlicher Anspannung, nicht auch mal die Frage der Verantwortung des Schriftstellers?
Ich kann mir nicht sagen lassen, okay, Sie sind frei, aber verhalten Sie sich verantwortlich. Es gibt keine Grenzen bei der Freiheit, sich auszudrücken, null Grenze sogar.
Auch wenn man damit ein so starkes Echo auslöst in der Realität?
Auch dann. Es gibt keine Grenze.
Wobei es noch schwieriger sein kann, Ihren Roman zu verstehen, wenn Sie da reale Personen vorkommen lassen wie François Hollande oder Marine Le Pen.
Das haben die Romanciers immer gemacht. Wenn jemand eine wichtige Rolle im Leben eines Landes und das Buch in der Gegenwart spielt, dann ist das ganz normal. Auch in einem fiktiven Wirtschaftsroman können echte Unternehmer auftauchen, das ist elementar.
Also macht man Ihnen eine Art Hexenprozess?
Oh ja, in der Richtung geht es zur Zeit schon etwas übertrieben zu.
Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Roman in der aktuellen Stimmung sein Teil zur allgemeinen Islamophobie beiträgt?
Nein, denn mein Buch ist nicht islamfeindlich. Das dürfte sogar bei unaufmerksamer Lektüre deutlich werden.
Aber warum verletzt es dann die Muslime, warum provoziert es solche Reaktionen?
Muslime sind da keineswegs verletzt. Muslime haben mir gesagt, „das schockiert mich nicht, worin auch?“. Vielleicht gibt es eine isolierte Einzelstimme, die bedauere ich.
Befinden wir uns also in einer extrem explosiven gesellschaftlichen Phase, und das kleinste Zeichen von Seiten der Essayisten, der Romanciers nährt das Feuer?
Ja, das ist wahr. Wir erleben eine Phase, in der die Menschen ihre Besonnenheit verlieren. Man muss jetzt die Ruhe bewahren, so schwer das scheinen mag.
Sie flüchten sich, wie Sie sagen, hinter die Mauer der Fiktion. Aber wird diese Mauer standhalten?
Das muss so sein. Denn wo kommen wir hin, wenn wir in diesem Land keinen Roman mehr schreiben können? Da könnten wir Schriftsteller ja gleich auswandern. Die Leute müssen verstehen: Fiktion ist Fiktion – ein eigentlich einfacher Gedanke, der noch gar nicht so lange Allgemeingut ist.
Premierminister Manuel Valls hat heute gesagt: „Mein Frankreich ist nicht das Frankreich von Houellebecq“. Und Marine Le Pen: „Diese Fiktion könnte eines Tages Wirklichkeit werden". Und der Moderator Ali Baddou: „Dieses Buch kotzt mich an“. Welcher Kommentar trifft Sie am meisten?
(zögert) Vielleicht der von Ali Baddou. Es war nicht mein Plan, ihn persönlich zu verärgern.
2001 haben Sie mal gesagt, der Islam ist die blödeste Religion der Welt. Was hat Sie bewogen, Ihre Meinung zu ändern?
Die Lektüre des Korans vor allem. Auch wenn ich ihn sicher nicht ausreichend gut gelesen habe. Eine durchschnittliche Interpretation des Koran führt keineswegs zum Dschihadismus. Um den Koran so zu deuten, muss man schon sehr unredlich, sehr unanständig sein.
Erstaunt es Sie, dass die Leute so massiv auf Ihren Roman reagieren?
Bei Manuel Valls schon ein bisschen. Ich dachte nicht, dass er schon die Zeit hatte, das Buch zu lesen, aber … wie auch immer.
Leben Sie im selben Frankreich wie er?
Wahrscheinlich nicht. Wir bewegen uns nicht in denselben Stadtvierteln, arbeiten auf ganz verschiedenen Feldern.
Was ist in Ihren Augen am wichtigsten: dass Ihre Bücher niemanden gleichgültig lassen, auch auf die Gefahr hin, extreme Reaktionen hervorzurufen?
Am Ende ist es das Urteil der mir Ebenbürtigen, das mir am wichtigsten ist. Manuel Valls mag sagen, was er will, mit ist es ziemlich wurscht. Sprechen wir wieder darüber, wenn er zwei oder drei Romane geschrieben hat. Jeder an seinem Platz!
Und zu Marine Le Pen: Fürchten Sie da nicht eine politische Vereinnahmung?
Ach wissen Sie, wer mich vereinnahmen will, der ist noch nicht geboren. Soll sie’s doch versuchen. Let's try. Wir werden sehen, ob das klappt.
Wie wollen Sie in den nächsten Wochen konkret weitermachen? Wollen Sie hierbleiben, reisen, sich beschützen lassen?
Ich weiß nicht, vielleicht. Ich muss mit meiner Verlegerin sprechen.
Und Ihr sehr symptomatischer Hinweis, dass Sie einstweilen nicht mehr für Ihr Buch werben wollen?
Im Augenblick habe ich keine besondere Lust, über mein Buch zu sprechen. Es geht mir nicht gut. Ich bin nicht in Form.
Übersetzung: Jan Schulz-Ojala.
Zu sehen ist das Interview unter http://www.canalplus.fr/c-divertissement/c-le-grand-journal/pid5411-le-grand-journal.html?vid=1196506