Neue Musik: Klangspalter, Himmelsstürmer
Wozu brauchen wir Neue Musik? Ihr bedeutendstes Festival, die Donaueschinger Musiktage, feiert 90. Geburtstag
„Der 90. Geburtstag“ (oder „Dinner for One“) ist ein beliebter Sketch aus den Urgründen der deutschen Fernsehunterhaltung. Freddie Frinton als Butler James hat darin die Aufgabe, beim abendlichen Dinner die vier engsten, längst verstorbenen Freunde der Jubilarin Miss Sophie zu mimen: Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy und Mr. Winterbottom. Dabei stolpert er elf Mal über den Kopf eines Tigerfells und haut sich beim Hackenzusammenschlagen („Skål!“) die Knöchel blau. Seit 1963 lacht sich die Nation darüber zu Silvester schlapp.
Die Donaueschinger Musiktage werden in diesem Jahr so alt wie Miss Sophie. Und sie wissen ebenfalls zu feiern: mit 20 Uraufführungen in den Turn- und Donauhallen, Kirchen und Wunderkammern des Schwarzwaldstädtleins, installativ, konzertant, mit einer Fußballperformance und einer Art Speaker’s Corner („Neue Musik wozu“), mit Raumklängen und Klangräumen und Videos natürlich. Zum ersten Mal ist sogar Fürst Heinrich von Fürstenberg, der ortsansässige Schirmherr, wieder samt Familie zum Eröffnungskonzert erschienen. Für Norbert Lammert hingegen, für Gerhart Baum oder Christina Weiss und andere prominente Gäste gehört das zweite Oktoberwochenende fest in den Jahreskreis – und ist die Erfahrung neuester Musik offenbar existenziell, ja ein „Lebensmittel“.
Seit 1921 – mit Unterbrechungen – beschwört man in Donaueschingen nun das Neue, und alle, die in der Branche etwas gelten, ästhetisch, theoretisch, politisch, haben sich hier ihre Sporen verdient, von Nono bis Stockhausen, von Spahlinger bis Kalitzke. So weit, so ruhmreich (und meist männlich). Die Frage freilich lautet (und Festivalleiter Armin Köhler ist schlau genug, sie regelmäßig selbst zu formulieren): Kann „das Neue“ allen Ernstes die erste Aufgabe der Musik sein? Ist der Glaube an den Fortschritt der Musikgeschichte so ungebrochen? Bach, Brahms, Bruckner, Berg, Boulez, Billone?
Rund 67 Festivals für Neue Musik zählt man heute in Europa. Donaueschingen aber ist nach wie vor der Ritterschlag. Wer hier uraufgeführt wird, erfolgreich oder nicht, hat es geschafft. Der dreht sich mit auf dem Karussell, bekommt Aufträge oder sogar einen Verlag und wird früher oder später garantiert irgendwo composer in residence. Donaueschingen versteht sich eben auch als Messe, auf der kräftig Handel getrieben wird. Schließlich dürfen die Nischen der Nischenkunst Neue Musik nicht verwaisen.
Dabei wird traditionell eines leicht vergessen: das Publikum. Wen, verdammt, interessiert es eigentlich, ob der Tonsetzer X seine ohnehin unspielbaren Spaltklänge analog oder digital erzeugt? Welche Funken Sergej Newski, 39, aus dem Widerspruch zwischen „Material“ und „Syntax“ schlägt (in einem Stück mit dem attraktiven Titel „Arbeitsfläche“)? Oder warum Sarah Nemtsov, 37, in „Hoqueti“ ausgerechnet ihre Schlafstörungen vertont, selbstredend nicht, ohne diese mit Benjamin, Adorno und Brecht zu unterfüttern? Solange der Schlaf zu Herzen geht und die Funken sprühen, kann einem das gewiss gleich sein. Sobald die Musik jedoch nur mehr Erfüllungsgehilfin willkürlicher Versuchsanordnungen ist, Kopfgeburt ihrer selbst, beginnt man zu zweifeln. Kennen Komponisten denn keine Themen mehr, keine Stoffe, keine Notwendigkeiten? Treibt sie der Lauf der Welt immer tiefer hinein in ihre Schneckenhäuschen?
Dramaturgisch übrigens zeigen fast alle Beiträge des Jahrgangs 2011 eklatante Schwächen. Die Gesetze von Spannung und Entspannung, vom rechten Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag, scheinen weitgehend außer Kraft gesetzt zu sein. Und die Missverhältnisse wiederum wirken so unfreiwillig, dass man ihnen nicht traut. Selbst eine so kluge „Raumcollage“ wie Rebecca Saunders’ „Stasis“, in der der Fokus durch wandernde Musikerformationen ständig wechselt, hat Löcher. Man fühlt sich bewegt, ohne sich bewegt haben zu müssen, genießt die Stille hinter respektive vor aller Musik – und hat doch spätestens nach einem Drittel der Zeit verstanden. Der Rest ist eine Frage der Geduld.
Ähnlich verhält es sich bei Pierluigi Billone, der am Eröffnungsabend die Vorgruppe zu Wolfgang Rihm abgeben darf: „Phonogliphi“ heißt sein Stück für Stimme, Fagott und Orchester, eine Instabilitätsstudie mit vier ausgelagerten Schlagzeuggruppen und den beiden Solisten als „Doppel-Herz“. Herrlich, das näselnde, knarzende Timbre des Fagotts, als kennte die ganze Welt keine andere Farbe. Und schön auch, wie lasziv sich der Orchester-Körper dazu räkelt. Mehr als zehn Minuten aber trägt das Ganze kaum (und dauert doch satte 20).
Warum aber wird draußen im Land so oft einer ganz anderen neuen Musik gehuldigt als in Donaueschingen? Warum spielen die Berliner Philharmoniker Thomas Adès und Jonathan Harvey, die in Donaueschingen mindestens so geächtet werden wie Hans Werner Henze oder Aribert Reimann, bis heute? Offenbar funktionieren die Filter zwischen den Spezialfestivals auf der einen Seite und dem Kulturbetrieb auf der anderen nicht. Schlimmer noch: Sie werden offensiv verstopft – und zwar von beiden Seiten. Mein Fortschritt, dein Fortschritt, kein Fortschritt?
Und so thront Miss Sophie, die alte Dame der Neuen Musik, doch recht einsam an ihrer Geburtstagstafel. Man mag sich nicht vorstellen, was ist, wenn auch der gute James eines Tages das Zeitliche segnet. Die Rolle von Sir Toby, für den es bei Tisch gern ein bisschen mehr sein darf, könnte Wolfgang Rihm übernehmen, immerhin. Seine knapp einstündige „Séraphin“-Symphonie ist das diesjährige Opus magnum des Festivals – und eine Selbststilisierung sondergleichen. Das groß besetzte SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg trifft hier in der Baar-Sporthalle neben zwei Pianisten und Schlagwerk auf das immens fleißige Ensemble musikFabrik. Rhythmische Aufheizphasen wechseln mit mancherlei Melodiösem, Kantilenösem oder poetisch Lichtem, und selbst wenn die hohen Streicher kreischend verzweifeln, sitzt dieser Musik noch der Schalk im Nacken. Das ist schön, und natürlich beherrscht Rihm sein Handwerk. Er beherrscht es so glorios, dass er sich vor totalitären Ausbrüchen nicht fürchtet (schweres Blech, Glocken) und das Ende vom Lied, vor dem erstaunlich düsteren Epilog, sich gar wie eine aus dem Kraut geschossene Musical-Fantasie bläht.
Doch was will der Komponist uns mit alldem sagen? Wer kann, der kann – und weidet sich nach Kräften selbst aus? Die Rihm-Gemeinde mag hie und da etwas wiedererkennen, versprengte Bastarde aus der weitverzweigten, gut 20-jährigen „Séraphin“-Werkfamilie (ein Musiktheater, ein Concerto, ein Tanztheater, eine Etüde, diverse Ensemblestücke), verborgene Schichten, Überschriebenes, Übermaltes, ja: Überhörtes. Soll das Publikum hier Detektiv spielen? Oder findet Rihm sein eigenes Oeuvre ganz einfach so spannend, so viel spannender als alles andere, dass er sich nur daran noch entzünden kann? Allgemeines Rätselraten auf sehr leisen Sohlen.
Es geht nicht nicht darum, dass man sich hörend auch bemühen muss, es geht um Unmittelbarkeit. Wie stellen wir es an, dass der Komponist der Zukunft sich nicht mehr nur verschanzt? Wolfgang Mitterer und Jennifer Walsh sind der Antwort hart auf der Spur, von der Quote her darf Donaueschingen 2011 also durchaus als Erfolg gelten. Die brennende Emotionalität, mit der Mitterer in „Little Smile“ einmal mehr die Grenzen zwischen Komponiertem und Improvisiertem ausbeult, Witz und Biss von Walshs „Watched over Lovingly by Silent Machines“ (für fünf Stimmen und DVD), einem Horror-Szenario des Alltags in der Kino-Ästhetik der Dreißigerjahre – das gibt Hoffnung. Für sie und für uns hat Christina Kubisch ihre „Silent Exercises“ in die Christuskirche gebaut: Unten, im Schiff, erklingt das Wort „Stille“ in 1000 Sprachen, oben, im Dach, ergibt das Sonogramm des Gesprochenen eine Videoinstallation. Wie die Fäden eines Webstuhls legen sich ihre fein gestaffelten Striche über Treppen, hölzerne Leitern, Sand. Ein Schacht führt direkt hinauf in die Kirchturmspitze und in den Himmel hinein, wo Mr. Pommeroy und Mr. Winterbottom fröhlich auf uns warten.
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