Romandebüt aus Syrien: „Meine Heimat erwies sich als Illusion“
Der Schriftsteller Nather Henafe Alali ist aus Syrien nach Deutschland geflohen. Im Interview spricht er über seine Zeit im Gefängnis und sein Romandebüt.
Nather Henafe Alali, 1989 in Deir Azzor, Syrien geboren, wurde 2012 vom Assad- Regime inhaftiert. Seine Familie kaufte ihn frei, sein Studium der Zahnmedizin musste er abbrechen. Alali arbeitete für Hilfsorganisationen und NGOs. Er floh nach Deutschland, war unter anderem „Spiegel“-Kolumnist. In diesem Herbst wurde bei S. Fischer sein erster Roman „Raum ohne Fenster“ veröffentlicht. (Übersetzt von Rafael Sánchez Nitzl, 224 Seiten, 20 €.) Im Mittelpunkt stehen mehrere junge Erwachsene, die in Syrien Folter, Belagerung und Bombenangriffe erleben und daraufhin nach Deutschland flüchten.
Herr Alali, vor einigen Wochen haben sich türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der russische Präsident Wladimir Putin auf eine entmilitarisierte Zone rund um Idlib geeinigt, der letzten Hochburg der syrischen Rebellen. Wie denken Sie darüber?
Das Bündnis zwischen der Türkei, Russland und Iran wirkt nicht stabil. Erdogan war verärgert über beide Partner, weil sie gegen Idlib marschieren wollten, obwohl vereinbart war, die Region unter türkischer Kontrolle zu belassen. Dass es dennoch zu einer Einigung kommen würde, habe ich erwartet. Eine Stürmung Idlibs würde nicht nur eine Katastrophe für die Zivilgesellschaft bedeuten. Tausende würden versuchen, in die Türkei zu fliehen - was Erdogan verhindern will. Und auch Putin weiß, dass eine solche Intervention nicht einfach wäre.
Kennen Sie Personen, die sich derzeit in Idlib aufhalten?
Eine ganze Menge, sowohl Geflüchtete aus meinem Geburtsort Deir Azzor als auch viele Aktivisten und Journalisten. Die demokratische Bewegung Syriens ist in Idlib noch lebendig, kämpft dort immer noch für Freiheit und Bürgerrechte. In den Nachrichten sieht man, wie die Nationale Befreiungsfront gegen Russland demonstriert. Sie grenzt sich auch ab von al-Nusra, einer Gruppe, deren islamistische Ideologie nichts mit unserer Revolution zu tun hat. Putin hat die Rebellen nun aufgefordert, ihre Waffen abzugeben. Meine Befürchtung ist, dass es tatsächlich dazu kommt und Russland und Assad Idlib dann doch noch angreifen. Man kann ihnen nicht vertrauen.
Die Handlung Ihres Romans „Raum ohne Fenster“ beginnt 2012, als der Syrienkonflikt mit Bürgerprotesten gegen das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad begann. Wie erlebten Sie die Stimmung damals?
Um das nachzuvollziehen, muss man bis in die siebziger Jahre zurückgehen, in denen unter Assads Vater Hafiz al-Assad die Herrschaft der Baath-Partei begann. Seitdem war für jeden Bürger in Syrien klar: Wenn du dich gegen das Regime positionierst, gehst du ins Gefängnis oder ins Exil. Diesen Zustand wollte die junge Generation nach dem Arabischen Frühling 2011 nicht länger akzeptieren. Wir gingen auf die Straße, um Freiheiten einzufordern. Mit meinen Eltern, die in den achtziger Jahren erlebt hatten, dass solche Aufstände blutig enden können, habe ich mich oft deswegen gestritten. Heute sagen sie mir und den anderen Revolutionären: Seht, was passiert ist – genau davor wollten wir euch warnen.
Sie erzählen die Leidensgeschichte von Aziz, einer Figur mit vielen biografischen Parallelen zu ihnen. Er wird inhaftiert, von seiner Familie freigekauft und flüchtet.
Richtig, anders als Aziz wurde ich aber nicht zum Militärdienst gezwungen, und meine Inhaftierung 2012 war kürzer als die meines Heldens. In der Figur von Aziz bündeln sich die Geschichten vieler Bekannter, die friedlich gegen Assad protestierten und dafür ins Gefängnis kamen, ihr Studium nicht fortführen konnten. Hätte ich an Aziz nur meine Geschichte erzählen wollen, wäre ein anderes Buch entstanden.
Aziz muss während der Haft miterleben, wie Frauen und Kinder gefoltert werden, hört nachts in der Zelle ihre Schreie. Das haben auch Sie so erlebt.
Ja. Um zu erklären, warum so viele, die unter Assad verhaftet wurden, sich später auf die Flucht machten, muss man die Geschichte aber so erzählen, wie sie Aziz widerfährt: mit all den Misshandlungen, all der Gewalt. Im Gefängnis zeigt sich einem das eigene Land von einer Seite, die nichts mit dem zu tun hat, was man bisher für seine Heimat hielt. Das Land, das man geliebt hat, offenbart sich plötzlich als Illusion – und man weiß nicht, wie man länger darin leben soll.
Was folgt daraus für Sie als Schriftsteller?
Ich wollte unbedingt über Gefängnisse schreiben. In der syrischen Literatur ist Gefängnisliteratur zuletzt immer wichtiger geworden. Ein trauriges Zeugnis unserer nationalen Geschichte.
Eine andere Art von Gefängnis erlebt in Ihrem Buch die junge Witwe Hayat, die mit ihrem Sohn während der Belagerung durch das Militär in einem Vorort von Damaskus ausharrt.
Die Belagerung der syrischen Städte war noch schlimmer als Gefängnis. In Aleppo oder bei Damaskus waren in diesem Krieg Hunderttausende Menschen eingeschlossen. Ohne gutes Essen, ohne Medikamente, ohne eine Chance, ihre Häuser zu verlassen. Und ständig gab es Bombardierungen.
Der Eindruck, eingesperrt zu sein, begleitet Aziz und Hayat auch später auf ihrer Flucht nach Deutschland. Ob Zelt oder schäbiges Herbergszimmer, alle Stationen der Reise scheinen sie mit ihrer Enge fast zu zerdrücken. Ein Trauma?
Ich wollte zeigen, dass letztlich alle Länder ein ähnliches Leid für Flüchtlinge erzeugen. Nirgendwo kannst du frei studieren oder leben. Du musst Papiere ausfüllen, es gibt Gesetze gegen dich. Mein Roman heißt „Raum ohne Fenster“, weil du als Mensch, der vor dem Krieg geflohen ist, immer als solcher sichtbar bist, nie ein Fenster vor dir schließen kannst, Missfallen erregst.
Istanbul, Kos, Budapest, Berlin – es ist offenkundig, welche Orte Ihre Figuren auf ihrer Flucht passieren. Warum erwähnen Sie diese nie namentlich?
Die Namen spielen keine Rolle. Letztlich macht es keinen Unterschied, ob du als Flüchtling über die Balkanroute oder über Italien nach Deutschland kommst. Die Nennung von Ortsnamen hätte meine Geschichte zu sehr auf bestimmte Umstände reduziert. Dass der Schauplatz der ersten Romanhälfte Syrien ist, erschließt sich auch sofort. Ich wollte, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern ihre eigenen Orte darin sehen können.
Sie selbst kamen vor vier Jahren mit einem Flieger aus Istanbul nach Berlin.
Ja, ich war nicht im Libanon oder stand an der griechisch-mazedonischen Grenze. Aber einer meiner Brüder kam von der Türkei über die Landroute nach Deutschland. Von ihm und anderen Syrern habe ich viel über diese Art der Flucht erfahren. Das zentrale Gefühl aller ist die Ungewissheit des Wartens. Man wartet vor Grenzübergängen - und auf das, was Politiker sagen und entscheiden.
Während Hayat am Mittelmeer auf die Überfahrt in einem Schlauchboot wartet, erinnert sie sich an ein Gedicht des syrischen Dichters Nizar Qabbani. Darin ist das Meer eine Metapher für die Liebe, in der man versinken will. Fallen Schönheit und Schrecken in diesem Bild zusammen?
Es gehört zur syrischen Literaturtradition, das Meer als Bild für Schönheit, Freiheit und grenzenlose Liebe einzusetzen. Vielleicht deshalb, weil es in unserem Land wunderbare Küsten- und Urlaubsstädte wie Latakia, Dschabla und Tartus gibt. In den letzten Jahren, in denen so viele Syrer im Mittelmeer ertrunken sind, hat sich diese Assoziation gewandelt. Mit den Zeilen von Qabbani möchte ich den gewandelten Blick meiner Landsleute auf das Meer verdeutlichen.
Je weiter Ihre Figuren ihr Herkunftsland hinter sich lassen, desto weniger sprechen sie. Steht diese Verstummung für den Verlust ihrer sprachlichen Heimat?
Die Sprache ist ein Teil der eigenen Identität, auch wenn ich diesen Begriff nicht mag. Wer sie nicht mehr benutzen kann, hat das Gefühl, dass ihm seine Identität abhandenkommt. Es tut weh, sich in einer fremden Gesellschaft anfangs nicht unterhalten zu können, niemanden einladen zu können. Syrer in Deutschland müssen unbedingt die deutsche Sprache lernen. Nicht weil ein Integrationsgesetz es verlangt, sondern weil wir auf die Kommunikation miteinander angewiesen sind. Nur über die Sprache können wir Freundschaften schließen, ein neues Leben aufbauen.
Sie haben Ihren Roman auf Arabisch verfasst. Ist es für Sie frustrierend, im Exil über den Umweg der Übersetzung publizieren zu müssen?
Nein. Es ist besser in meiner Muttersprache zu schreiben. Nur mit ihr kann ich wirklich frei umgehen. Trotzdem will ich mein Deutsch weiter verbessern, um mit den Menschen in diesem Land auch direkt kommunizieren zu können. Die meisten Ausländer, die ich hierzulande kenne, haben wenig Kontakt zu Deutschen. Niemand weiß genau, warum das so ist - ich glaube, die deutsche Kultur spielt dabei eine wichtige Rolle. Das ist keine Kritik an den Deutschen, ich habe hier Freunde, die ich woanders nie gefunden hätte. Aber ich stelle fest, dass es viel Zeit braucht, bis Vertrauen wächst.
Jonathan Horstmann