Syrischer Autor Aboud Saeed: Als geflüchteter Schriftsteller in Berlin
Als sein erstes Buch in Deutschland erschien, war Aboud Saeed noch in Syrien. Nun liegt sein zweites Werk vor – und der Autor lebt seit fast genau zwei Jahren in Berlin. Ein Erfahrungsbericht.
Als ich in Deutschland ankam, landete ich zuerst am Flughafen Schönefeld, wo mich meine Freundin und Verlegerin Nikola abholte. Sie reichte mir eine Flasche Mineralwasser. Anschließend kaufte sie mir ein BVG-Ticket, und mit dem fuhr ich dann zum ersten Mal in meinem Leben U-Bahn. Ich kannte das zuvor nur aus Filmen, vor allem von Verfolgungsszenen, wo die Gang dem Helden hinterherjagt. Im amerikanischen Kino gibt es das ja oft. Da war ich nun also, und fuhr selbst mit der U-Bahn, im Besitz eines Fahrscheins, und weder waren mir Gangster noch Polizisten auf den Fersen. Ein Held war ich auch nicht, ich war lediglich hungrig, weil ich weder im Flugzeug noch im Flughafen etwas gegessen hatte. Also ging Nikola mit mir in die Sonnenallee zum Falafelessen. In der Sonnenallee überkam mich plötzlich die blanke Enttäuschung. War ich hier wirklich in Deutschland? Und kaum hatte ich mein Sandwich aufgegessen, da bogen wir auch schon in die Weserstraße ein. Aha, hier war es also. Hier war also Deutschland. Hier würde ich sein, hier würden sich meine Talente entfalten. Auf dieser Straße würde ich dem Mädchen meiner Träume begegnen: Ich würde nicht wählerisch sein. Dann tranken wir ein Bier. Meine Augen wurden rot und fielen mir fast aus den Höhlen bei dem Anblick Fahrrad fahrender Mädchen.
Wir gingen zum Hermannplatz und überrascht stellte ich fest, dass auch Nikola dort ein Fahrrad geparkt hatte. Wir ließen uns mit Nikolas Smartphone fotografieren. Ich, sie, meine Übersetzerin Sandra und das Fahrrad. Dann postete ich das Foto bei Facebook und schrieb darunter: „Ich und meine Verlegerin in Berlin.“ Da kommentierte mein in Saudi-Arabien lebender Bruder: „Eine Verlegerin, die nicht einmal ein Auto hat, mit dem sie dich gebührend empfangen könnte!? Wenn sie so dermaßen arm ist, dass sie sich nicht einmal ein Auto leisten kann, wieso bestellt sie dich dann überhaupt nach Deutschland?“ Andere Facebookfreunde schrieben: „Glückwunsch!“ Einer fragte: „Ist das deine deutsche Geliebte?“ Und meine in der Türkei lebende Freundin, der ich gerade verkündet hatte, dass ich sie liebe und bis zu meinem Lebensende mit ihr zusammen sein werde, beschränkte sich darauf, das Bild kommentarlos zu liken. Mein großer Bruder hingegen schrieb: „Angela Merkel persönlich hätte dich empfangen sollen!“ Von meiner Schwester kam: „Mensch, hast du’s gut.“ Eine andere Freundin schrieb: „Mag ja sein, dass die deutschen Frauen blond sind, schön sind die jedenfalls nicht!“
Ich rauche jetzt auch Marihuana
Am Ende hatte das Foto achthundert Likes und über dreihundertfünfzig Kommentare. Es war das erste Foto von mir, das eine derartig astronomische Zahl an Likes bekam. Aus dieser Zahl folgerte meine Mutter, dass dies das wichtigste Ereignis meines Lebens sein musste.
Jetzt lebe ich in Friedrichshain, gleich bei der Warschauer Straße. Endlich habe ich es zu einer Wohnung mit unbefristetem Mietvertrag gebracht. Meine Miete zahlt mein ritterlicher Freund namens Jobcenter. Eine schöne Wohnung: zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Balkon und eine schöne Nachbarin, in die ich mich verliebt habe, und wenn meine Freunde mich nach der Gegend fragen, in der ich lebe, sage ich: „Ein sehr schickes Viertel. Es sind alles Deutsche die hier wohnen!“ Jeden Morgen öffne ich das Fenster und gieße die Blumen, die mir die Vormieterin vererbt hat. Ich skype mit meiner Mutter in der Türkei und erzähle ihr, dass ich mich um die Blumen kümmere. Meine Mutter lacht und sagt: „Gott ist aber auch wirklich zu allem imstande. Du kümmerst dich um Blumen? Ich glaub’s nicht.“ „Das ist längst nicht alles, Mama. Ich rauche jetzt auch Marihuana. Das ist lecker, es wird dir sicher auch schmecken. Wenn du eines Tages hier bist, bringe ich es dir bei.“
Ich bin glücklich in der neuen Wohnung. Davor wohnte ich in Wedding. Damals ging ich immer schon abends um zehn schlafen. Nicht etwa, weil ich morgens früh zur Arbeit musste. Sondern weil sich ganz Wedding um zehn Uhr abends schlafen legt. Sogar meine Freundin, die mit mir zusammenwohnt, legte sich während der Zeit in Wedding um zehn Uhr schlafen. Durch diese Lebensweise nahm ich zu und hatte Angst, irgendwann übergewichtig zu werden. Deswegen zog ich dann nach Neukölln. Da verbrachte ich meine Abende meist in den Bars rund um die Weserstraße und manchmal auch im Café Kotti am Kottbusser Tor. Dort mag ich vor allem die Leute, die es da hinzieht. Ich mag aber auch die Einrichtung und die intime Atmosphäre. Jedes Mal suche ich mir ein langes Sofa aus und setze mich darauf, für den Fall, dass plötzlich ein Mädchen hereinkommt und keinen Platz findet. Dann würde ich ihr nämlich neben mir Platz machen und mich augenblicklich in sie verlieben. Doch stattdessen kommt jedes Mal wieder irgendein Syrer, der einen noch freien Platz sucht, und am Ende verbringe ich den Abend mit einem Syrer zu meiner Rechten, einem Libyer zu meiner Linken und einer tunesischen Dame um die siebzig mir gegenüber.
Einmal war ich gerade mit meiner Freundin – der, die schon um zehn Uhr abends schlafen geht – auf dem Nachhauseweg von einer Neuköllner Bar. Ich war besoffen, als mir plötzlich ein blondes Mädchen in Begleitung einer älteren Dame und eines Hundes eine Pistole ins Gesicht hielt.
Ich kam, beladen mit 75 Zigarettenschachteln und 1000 Sünden
Sie drohte uns: „Gebt uns alles, was ihr an Geld dabeihabt!“ Für einen Moment dachte ich, ich sei im Programm „Versteckte Kamera“ mit Ziad Sahtout gelandet. Ich sah meine Freundin lächelnd an und wartete auf den Moment, in dem dieses Mädchen loslachen und „Versteckte Kamera!“ rufen würde. Das war ganz bestimmt die versteckte Kamera. Ich befand mich schließlich in Deutschland ... dem Land der Sicherheit ... Der Hund fing an zu bellen, als wolle auch er Geld haben. Die Pistole machte mir nicht halb so viel Angst wie der Hund. Die Situation zog sich in die Länge – und von Ziad Sahtout immer noch keine Spur. Meine Augen suchten verzweifelt in der Dunkelheit nach dem Lichtreflex einer Kamera.
Doch das Mädchen insistierte und schrie, während sie die Pistole an meine Brust hielt: „Give me money!“ Vielleicht war das Ganze doch kein Scherz. Kein alberner Gag. Und ich erkannte langsam, aber deutlich, dass das Mädchen Drogen genommen hatte. Ich versuchte, sie durch Reden abzulenken, um die Pistole unbemerkt anzufassen. Ich wollte mich vergewissern, ob sie aus Metall war oder vielleicht nur aus Plastik. Sie war echt!!! Und die versteckte Kamera eine Illusion!! Ich zog meine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche. Steckte dem Mädchen eine Zigarette in den Mund. Ich gab ihr Feuer, dann zündete ich mir selber auch eine an und sagte zu ihr: „Jetzt hör mal gut zu. Ich bin aus einem Land geflohen, wo alles, was man tut, Selbstmord ist. Jedes geparkte Auto ist eine Autobombe, jeder Fußgänger hat einen Sprengstoffgürtel um, in jeden Park hat man Zeitbomben gepflanzt, jeder Vogel am Himmel ist ein MiG-Jet. Er sieht nur aufgrund der Entfernung so klein aus und kann jeden Moment die in Schulen, auf Märkten, öffentlichen Plätzen, bei Hochzeiten, in Häusern oder auf Beerdigungen versammelten Menschen bombardieren.
Diese sind lediglich Komparsen für das nächste Massaker. Du brauchst Geld? Mein ganzes Leben lang träume ich schon von einem iPhone mit MP3-Songs von Naseer Shamma und Ghalia Benali ... Möchtest du vielleicht meine Hose haben? Ich hab sie seit sieben Jahren nicht gewechselt, sodass sie jetzt völlig zerfleddert ist. Schau dir mal meine Schuhe an! Die hab ich gefunden, sie lagen weggeworfen an einer Straßenecke. Meinen Freunden habe ich erzählt, ich hätte sie für achtzig Euro gekauft. Ich bin nach Deutschland gekommen, beladen mit 75 Zigarettenschachteln und 1000 Sünden. Weißt du was? Ich glaube, wir gehen am besten zusammen in den Park. Meine Freundin, den Hund und diese ältere Dame lassen wir einfach hier und dann haben wir Sex im Dunkeln. Und dann klaue ich dir alles, was du an Geld hast, aus deiner Tasche und schicke es meiner Mutter, damit sie den Ölofen anmachen oder meiner Schwester Lippenstifte kaufen kann. Wir sind nämlich Stadtbeduinen, Prekariat, wir tragen auch bei Beerdigungen viel Make-up und ziehen unsere schönsten Kleider an, und die Frauen tragen alles, was sie an Schmuck besitzen, auf einmal. Wir singen und trauern im Sufi-Stil, wir trällern und heulen so laut, dass unsere Stimmen noch vor den Seelen der Toten zum Himmel steigen.“
Die Zigarette steckte ihr immer noch zwischen den Lippen, doch inzwischen hatte sie ihre Hand mit der Pistole sinken lassen. „Du willst Geld? Ich habe meine Liebste für eine Gasflasche verkauft. Ich habe mir den Schnurrbart rasiert ... Meine Würde habe ich bei meiner Mutter gelassen, dann kam ich hierher. Meine Mutter warf sie dann in den Müllkorb. Mein großer Bruder brachte den Müll raus. Dann kamen Katzen und Hunde und haben meine Würde zerfleischt. Was von ihr übrig blieb, vertrocknete, verschrumpelte, von Fliegen umschwirrt. Doch immer noch könnte ich schwören, dass es ihr gut geht.“
Das Mädchen fing so dermaßen an zu lachen, als hätte ich ihr einen Witz erzählt. Ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, ob sie sich einen Spaß mit uns erlaubt hat, vielleicht war ich zu besoffen, um das zu beurteilen.
"Syrien? Wow! Nie gehört!"
Ich liebe die Warschauer Straße, jene Straße, die nie schläft, und ich liebe meinen Nachbarn Christian und seine Frau Nina. Jede Woche kochen wir gemeinsam Molochiyeh, ein aus Corchorus-Blättern und Hühner- oder Rindfleisch zubereitetes Essen, und ich habe Nina bereits noch ein paar mehr syrische Gerichte beigebracht. Und das, obwohl sie sich weigert, mir eine Freundschaftsanfrage auf Facebook zu schicken, weil sie in meinem Buch „Der klügste Mensch im Facebook“ (siehe Kasten unten) gelesen hat, dass ich mich in jedes einzelne Mädchen, das mich auf Facebook hinzufügt, sofort verliebe. Doch was soll’s, dafür sind wir im echten Leben Freunde. Wir trinken zusammen Wein und besuchen uns gegenseitig, ohne vorherige Anmeldung. Ich habe den beiden nämlich auch die Tradition des Türenklopfens ohne Termin beigebracht. Wobei ich mir nicht darüber im Klaren war, dass Christian meine Worte wörtlich nehmen würde, als ich ihm sagte: „Mein Haus ist dein Haus. Wann immer du willst, klopf einfach an und komm rein.“ Ich hatte vergessen, dass Christian Deutscher ist und als solcher alles Gesagte für bare Münze nimmt. Mit den Deutschen ist nicht zu spaßen. Dennoch mag ich Christian sehr, und er mag mich auch. Richtig angefreundet haben wir uns, als er mich nach meinem Namen gefragt hat und ich ihm gesagt habe: „Ich werde dir meinen Namen verraten, aber du musst mir versprechen, dass du nicht erschrickst.“ Er versprach es mir, also sagte ich ihm: „Ich heiße Almohammad.“ Worauf wir wie zwei kleine Kinder zu kichern begannen.
Eigentlich heiße ich ja Aboud Saeed, aber als mir der Münchner Kunstverein eine Einladung schickte – damals war ich noch in Syrien –, überquerte ich die syrisch-türkische Grenze illegal. Denn der Kunstverein hatte die Einladung an die Deutsche Botschaft in Ankara geschickt, da es in Syrien aufgrund des Krieges keine deutsche Auslandsvertretung mehr gibt. Ich machte mich also auf zur Botschaft. Dort wollte man diverse Unterlagen von mir, ein hochaufgelöstes Passfoto und eine ins Deutsche übersetzte Kopie meines Personalausweises, beglaubigt von einem türkischen Notar. Und da wir neun Brüder und sechs Schwestern sind, von denen ich der Allerjüngste bin, hatte der Beamte der Meldebehörde in meiner Heimatstadt Manbidsch damals meinen Namen auf den Einband des Familienregisters geschrieben, da im Heft kein Platz mehr dafür war, wegen meiner vierzehn Geschwister. Er schrieb also meinen Namen auf den Hefteinband und bestempelte ihn mit dem Stempel der syrischen Regierung. Und wie das Heft über die Jahre immer abgenutzter und abgegriffener wurde, wurde mein Name immer unleserlicher. Und als ich dann meinen ersten Personalausweis bekam, war mein Name zu „Aboud Saeed Almohammad“ statt „Aboud Saeed Alhamd“ geworden. Mir war das egal. Alhamd oder Almohammad, Meier oder Müller, ist doch eh alles das Gleiche.
Keine Angst, Mama, es ist nichts passiert
In Ankara bereitete ich alle Unterlagen vor und ging damit zur Deutschen Botschaft. Dort gab man mir einen deutschen Fremdenpass. Vom syrischen Staat konnte ich nämlich keinen Reisepass bekommen, da ich meinen Militärdienst nicht geleistet habe. Ich nahm also den Pass mit dem Visum und machte mich direkt auf den Weg zum Istanbuler Flughafen. Bei der Passkontrolle hielt man mich zwei Stunden lang fest, fragte mich nach meiner Nationalität und wie ich in die Türkei gelangt sei. Ich erklärte, dass ich auf illegalem Weg in die Türkei gekommen sei, daraufhin riefen sie bei der Deutschen Botschaft in Ankara an, um meine Aussagen zu überprüfen. Nachdem ich ein zweijähriges Einreiseverbot in die Türkei unterschrieben hatte, ließen sie mich gehen.
Ich stieg zum ersten Mal in meinem Leben in ein Flugzeug und landete in Berlin. Und als ich meinen Asylantrag stellte, sagte ich dem Sachbearbeiter, dass mein Name im Pass falsch geschrieben sei. Ich bat ihn, irgendetwas an meinem Namen zu ändern, damit ich wieder in die Türkei reisen und meine Familie, die inzwischen dort lebt, besuchen kann. Der Beamte tauschte freundlicherweise einfach meinen falsch geschriebenen Nachnamen mit meinem Vornamen aus, und so wurde mein Name „Almohammad Aboud Saeed“.
Jeden Abend gehe ich, Almohammad Aboud Saeed, nun in die Revaler Straße, ganz in der Nähe meiner Wohnung. Dank der ganzen Touristen hat mein Englisch einen enormen Qualitätssprung gemacht. An Samstagen stelle ich mich mit den Menschenmassen in die Schlange vor dem Berghain. Nach mehreren Stunden des Wartens sagt der Türsteher immer zu mir: „No, sorry, have a nice night!“ Doch letzten Samstag schaffte ich es schließlich in den Club, indem ich mich neben einen Mann stellte, der Make-up trug. Keine Angst, Mama, es ist nichts passiert. Sobald wir drinnen waren, war unsere Beziehung beendet. Wir trennten uns, und jeder ging seinen Weg.
In Clubs mag ich besonders diejenigen, die mich fragen, woher ich komme, und die, wenn ich mit „Syrien“ antworte, sagen: „Wow! Nie gehört! Wo liegt das denn?“ Ich habe nämlich auch vergessen, wo Syrien liegt. Ich habe meine Heimat vergessen, Mama. Und wenn du irgendwann hierherkommst, dann gehen wir zusammen ins Berghain. Und dann lernen wir, dass die Menschen die eigentliche Heimat sind.
"Du bist nicht schwarz. Du bist blond und schön"
Wenn ich zu Hause bin, schreibe ich weiter an meinem Roman, für den ich ein Arbeitsstipendium von der Kulturverwaltung des Berliner Senats erhalten habe. Ich träume davon, einen Winkel für mich in einer Tageszeitung zu finden, die für experimentelle Literatur offen ist und für die ich dann regelmäßig schreiben könnte. Ich bin weiterhin in Kontakt mit meiner Verlegerin Nikola und mit Sandra, die meine Bücher ins Deutsche übersetzt hat. Ich hoffe, dass sie auch meinen Roman übersetzen wird und dass wir ihn bei Literaturwettbewerben einreichen und Preise gewinnen werden. Und von dem Geld fahren Sandra und ich dann nach Thailand. Denn immer, wenn ich einen Deutschen treffe, sagt er früher oder später zu mir: „Ich werde nach Thailand reisen.“ Ich will auch nach Thailand reisen, ich bin auch ein Deutscher. Als ich noch klein war und auf die Grundschule ging, zogen mich meine Mitschüler immer mit meiner braunen Hautfarbe auf und bezeichneten mich als „Schwarzen“, was mich damals verletzte und ärgerte. Wenn ich dann niedergeschlagen von der Schule nach Hause kam, strich mir meine Mutter tröstend über den Kopf und sagte: „Du bist nicht schwarz. Du bist blond und schön. Ein Deutscher bist du!“ Und dann sang sie: „Du hübscher Brauner, wie schön du doch bist, du strahlender Mond am höchsten Firmament.“ Denjenigen zum Trotz, die mich als schwarz bezeichneten, kaufte sie mir ein Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft, das die Nummer Neun trug, weswegen meine Geschwister sagten, ich sei Rudi Völler. Davon animiert kickte ich den Fußball hoch und weit, völlig abseits vom Tor.
Ich liebe die Band Modern Talking und kann nicht tanzen. Meine Freundin, die immer um zehn Uhr schlafen geht, will immer mit mir tanzen gehen. Jedes Mal lehne ich ab, und jedes Mal insistiert sie: „Aber warum tanzt du denn nicht? Bist du zu schüchtern?“ Ich erwidere: „Ich kann zwar nicht tanzen, aber ich schaue anderen liebend gerne beim Tanzen zu. Du scheinst außerdem vergessen zu haben, dass ich Syrer bin. Mein Herz ist miesepetrig und mürrisch, wie das Gesicht meines Vaters, der nicht wusste, wie Lächeln geht. Wenn Leute in Syrien ihn loben wollen, sagen sie: ,Er war ein hochanständiger Mann. Nicht ein einziges Mal in seinem Leben hat er gelacht.‘ Aber ich verspreche dir: Eines Tages werde ich tanzen.“
Jeden Winter werde ich zweimal krank
Mama, ich habe dich nicht vergessen. Immer, wenn ich vor dem Spiegel stehe, denke ich an dich. Jedes Mal, wenn ich einen Mantel vom Flohmarkt anziehe, denke ich an dich. Jedes Mal, wenn ich mit der Bankkarte Geld von einem Automaten an der Straße abhebe. Jedes Mal, wenn ein Obdachloser mich um eine Zigarette bittet, erinnere ich mich an dich und stelle mir vor, dass du mir zusiehst. Dann nehme ich eine Zigarette aus der Packung in meiner Jackentasche und gebe sie dem Obdachlosen. Ich wünschte nur, er wüsste, dass ich ihm die Zigarette nicht seinet-, sondern deinetwillen gebe.
Jeden Winter werde ich zweimal krank, und der Apotheker will mir kein Antibiotikum geben und besteht darauf, dass ich ein Rezept vom Arzt brauche. Trotzdem liebe ich den Winter in Berlin, weil im Winter die Sonne so lange wegbleibt. Sonne kann ich nämlich nicht leiden. Wobei die Sonne hier eine richtige Sonne ist. Nicht wie die Sonne in meinem Heimatland. Die gleicht eher einem Stück Plastik, das man an eine mit einer Wetterkarte bemalte Metalltafel gesteckt hat und das der Moderator der Wettervorhersage, der ein staatlicher Angestellter ist, nach Belieben hin- und herschieben kann. Nein, hier richtet sich die Sonne nicht nach den Launen des Wetter-Moderators.
"Mein Land und ich, wir sind Sensationen"
Vor einiger Zeit wollte meine Freundin – die um zehn Uhr abends schlafen geht – mit mir ins Jüdische Museum. Sie erzählte mir erschüttert von den Mauerstücken, von den Fotos und von all dem Leid. Als käme sie, selbst Syrerin, von einem anderen Planeten und sei jetzt erstaunt über alles, was sie hier sieht. Als wolle sie sagen: „Ich bin diejenige, die das begreift und versteht, was hier dem Metaphysischen entsprungen ist.“ Und ich musste denken: Wenn nun eines Tages ich es wäre, der auf einem solchen Foto zu sehen ist, oder wenn die Falten im Gesicht meiner Mutter ausgestellt würden. Wenn die Massaker von al-Ghouta zu sehen wären. Wenn man die Zerstörung von Homs zeigen würde. Wenn, wenn, wenn ...
Ich blickte meine Freundin hinterhältig von der Seite an: „Mein Land und ich, wir sind Sensationen!“
Wie es scheint, müssen wir erst ausgelöscht werden oder der Vergangenheit angehören, bis die Welt unser Leid wahrnimmt.
Meine Freundin erzählt mir von Buddha und Meditation und zermürbt mir täglich das Gehirn mit ihren Osho-Zitaten.
Sie sagt: „Zeit ist ein artifizielles Konzept, ein Produkt der menschlichen Vernunft. Ewigkeit ist real, Nicht-Zeitlichkeit ist real.“ Und ich lache, rolle über den Boden und lache.
Wir hadern doch noch immer mit den einfachsten Dingen. Ich persönlich kann zum Beispiel noch immer keine Farben unterscheiden. Einmal bat mich meine Schwester, ihr einen magentafarbenen Lippenstift zu besorgen. Als ich ihn ihr mitbrachte, sagte sie: „Der ist doch rot, du Klugscheißer, das ist doch nicht magenta!“
Ich muss erst ganz Grundlegendes begreifen lernen. Die Grundlagen der Philosophie. Ich habe das Bedürfnis, den Grund für die Existenz von Personen zu begreifen, die mich aus meinem Haus vertrieben haben. Was bedeuten mir schon Freud und Osho, was bedeuten mir Museen? Und was bedeutet mir ein fünftausend Jahre alter Stein, wenn ich nicht auf dem Stein vor unserem Haus in Syrien sitzen kann?
In Berlin bin ich Schriftsteller, in Syrien war ich Schmied
Das ist alles nicht so wichtig. Ich bin glücklich in Berlin. Die Leute hier sind unkompliziert, und ich lerne, ebenfalls unkompliziert zu sein. Manchmal schreibe ich Artikel für deutsche Zeitungen, dann bleiben mir hundert Euro, um sie meiner Mutter zu schicken. Die lacht dann und sagt, auf Deutsch: „Danke schön!“ Meine Mutter weiß eben, dass das gesamte Leben ein Witz ist, sei es in Syrien, in Deutschland oder in Thailand.
In Berlin bin ich ein Schriftsteller, in Syrien war ich ein Schmied. Das ist ziemlich absurd, meine Mutter versteht es bis heute nicht. Auch nicht meine syrischen Freunde, die mich dort immer nur als Schmied kannten und inzwischen auch hier sind. Einmal wurde ich eingeladen, in einem Buchladen in der Ohlauer Straße zu lesen. Auf dem Weg zur Lesung übte ich in der U-Bahn. Meine Freundin begleitete mich und half mir, indem sie die Blätter ordnete, die Zeit im Auge behielt und mir zuhörte. Irgendwann sagte sie: „Wir sind spät dran. Bestimmt warten schon alle auf dich. Wir müssen uns beeilen.“
Wir liefen herum auf der Suche nach dem Buchladen, in dem ich lesen sollte, und rauchten im Gehen einen Joint gegen das Lampenfieber. Plötzlich hörten wir die Stimme von Sandra, der Übersetzerin: „Aboud! Wir sind hier!“ Sie stand vor dem Buchladen, in Begleitung eines Freundes, den sie zufällig unterwegs aufgegabelt hatte.
„Entschuldigt bitte unsere Verspätung.“
„Ach was, Aboud, es ja ist niemand hier. Außer der Buchhändlerin und diesem Freund von mir, den ich gerade spontan eingeladen habe.“
„Nein! Wo sind denn die Menschenmassen? Die kommen bestimmt noch!“
Eine halbe Stunde verging, während wir vor dem Eingang auf dem Gehweg warteten. Ein weiterer Joint gegen die Enttäuschung.
Da kam die Buchhändlerin, tätschelte mir die Schulter und sagte: „Keine Sorge, Aboud. Wir sind ja hier. Wir werden dir leidenschaftlich zuhören.“
Ich bin ein Schriftsteller, und ein Schriftsteller sitzt nicht vor weniger als vierzig Zuhörern, hörst du?! Ein Schriftsteller, ehrenwerte Dame, ein Schriftsteller! Warte nur ab, du!
Herr Straßenfeger, kommen Sie nur
Ich begann, Passanten anzuquatschen. „Hallo, ich habe hier eine Lesung! Komm, höre dir meine Texte an! Jeder kann kommen, Eintritt ist frei! Komm nur, komm!“ „Geehrtes Fräulein, ich habe hier Gedichte über Liebe und Verrat, gratis, grandiose Gedichte, spannende Gedichte!“ „Bitte sehr meine Dame. Sie haben sich aber gut gehalten! Ich bin ein Dichter, bitte sehr. Ihren Hund können sie natürlich auch mitbringen. Wie heißt er denn? Ich werde ihn verewigen, ihn in meine Gedichte aufnehmen. Treten Sie ein!“ „Huhu, liebe Kinder, kommt her! Ich bin zwar ein Dichter, bin aber immer noch ein richtiger Kindskopf.“ „Herr Straßenfeger, kommen Sie nur. Ich bin derjenige, der die Mülltüten vor der Wohnung meiner Freundin gestohlen hat, um ihre Sachen zu durchforsten.“ „Kommt nur, ihr Verrückten, ihr Obdachlosen, kommt, ihr Geringverdienenden.“ „Ich bin ein mieser Schriftsteller, aber manchmal sagen selbst miese Schriftsteller die Wahrheit.“
All meine Versuche scheiterten. Da fielen mir zwei Freunde ein, die auch aus meiner Stadt in Syrien stammen und jetzt in Berlin wohnen. Ich rief sie an und befahl ihnen, sofort zu kommen.
Ich, Sandra und ihr Freund betraten den Buchladen. Die Buchhändlerin rückte die Stühle zurecht und begann, den Anwesenden Wein einzuschenken. Schließlich kamen meine zwei Freunde. Sie taten so, als seien sie ganz spontan gekommen, als aufrichtig interessierte Leser. Sie setzten sich in die letzte Reihe, die zugleich auch die erste war.
Die Buchhändlerin fragte sie: „Was wollt ihr trinken?“ „Was gibt’s denn?“ „Red Wine, Beer, Coffee, Tea und Kuchen.“
„Dann wollen wir Red Wine und Kuchen.“
Wie ein Fernsehprediger ergriff ich das Mikrofon und sagte: „Na, na, na, Moment mal!“, als Auftakt zur Lesung und gleichzeitig als Signal an meine Freunde, mit dem Essen aufzuhören. Keiner hörte mir zu. Angesichts eines Stücks Käsekuchen verblasst alle Poesie. Mein ganzes Leben lang schon spreche ich mit meinen Freunden, meinen Geschwistern, meiner Mutter, meinem Lehrer, den Sicherheitskräften, ohne dass mir je einer von ihnen dabei ins Gesicht sieht. Jeder, der mich hört, dreht mir den Rücken zu. Nichts hat sich verändert. Ein Loser bleibt immer ein Loser, selbst wenn er nach China auswandert. Vierzig Minuten Lesung, kein Applaus, keine auf mich gerichteten Augen, meine Texte schmetterten hohl gegen das Glas der großen Auslagenfenster, die sie zurückwarfen und gegen meinen Kopf knallen ließen, wie Klaviernoten in einem menschenleeren Saal. Und meine zwei Freunde saßen mit vor der Brust verschränkten Armen da, und vor Schläfrigkeit fielen ihnen fast die Augen zu.
Nicht all meine Lesungen in Berlin sind so originell verlaufen. In den meisten Fällen hatte ich bisher das Glück, viele interessierte Zuhörer vor mir sitzen zu haben.
Aboud Saeed wurde 1983 geboren und lebt derzeit mit politischem Asyl in Berlin. Bis November 2013 lebte er in Manbidsch, einer Kleinstadt im Norden Syriens in der Nähe von Aleppo, im Haus seiner Eltern. Er arbeitete als Schmied und eröffnete in etwa mit Beginn der syrischen Revolution im Frühjahr 2011 ein Facebook-Konto, auf dem er mit viel schwarzem Humor und von Beginn an sehr eigenwilligem Stil Anekdoten über seinen Alltag, seine Mutter, das Rauchen schrieb. So wurde er in nur kurzer Zeit zu einer Berühmtheit im arabischsprachigen Facebook – und dort von der Übersetzerin Sandra Hetzl entdeckt. Sie überträgt seine Werke bis heute ins Deutsche, so auch den Text auf dieser Seite. Eine Auswahl seiner Statusmeldungen erschien unter dem Titel „Der klügste Mensch im Facebook“ 2013 im jungen Berliner Verlag Mikrotext (126 Seiten, gedruckt für 9,99 €, als E-Book für 1,99 €). Es war seine erste eigenständige Veröffentlichung überhaupt. Der Text wurde ins Englische und Spanische übersetzt, für Hörspielfassungen bearbeitet, in Anthologien aufgenommen und wird demnächst als Theaterstück am Ballhaus Naunynstraße uraufgeführt (Termine vorerst: 25.–28. November). 2015 erschien „Lebensgroßer Newsticker“ (160 Seiten, gedruckt bei Spector Books für 14 €, E-Book bei Mikrotext für 5,99 €). Dabei handelt es sich um eine Kurzprosa-Sammlung des, wie der Verlag schreibt, „großen syrischen Egos Aboud Saeed: autobiografische, packende, poetische Texte über das Aufwachsen in einem Land, das es so nicht mehr gibt, und über das Finden der eigenen Autorenstimme trotz aller Widrigkeiten“. Seitdem er – auch durch den Einsatz von Mikrotext-Verlegerin Nikola Richter – 2013 nach Deutschland kommen konnte, lebt Aboud Saeed in Berlin. Aktuell schreibt er, ausgestattet mit einem Autorenstipendium des Berliner Senats, an seinem dritten Buch. Weitere Infos: mikrotext.de und spectorbooks.com
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.
Aboud Saeed, Übersetzung: Sandra Hetzl