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Berlin trägt Kippa. Postsowjetisch, deutsch, jüdisch? Die Identität vieler Migranten vereint, wie im Fall unseres Autors, unterschiedlichste Facetten.
© dpa

Essay zur jüdischen Identität: Mein Freund Deutschsein

Die Identität, die Politik, das Schweigen – und das Patchwork-Judentum. Der Sozialwissenschaftler Igor Mitchnik über sein Jüdischsein.

Ich war ungefähr vier Jahre alt, als ich begriff, dass wir jüdisch sind. Es war das Einzige, was identitätspolitisch in meiner Familie zählte. Von Vergangenem wollte man sich nach der Immigration aus der Ukraine und Russland Anfang der 90er Jahre verabschieden, im Neuen fühlte man sich verloren. Mit einer irgendwie positiv besetzten Identität hatte dieses Judentum dennoch wenig zu tun: Ich wusste bereits im Kleinkindalter, dass Deutschland, unsere neue „Heimat“ – bei dem Begriff überkommt mich nach wie vor ein mulmiges Gefühl –, im Zweiten Weltkrieg alle Jüdinnen und Juden ausnahmslos vernichten wollte.

So paradox es erscheinen mag, wusste ich genauso, dass wir hier gelandet waren, um es besser zu haben als in der ehemaligen Sowjetunion. Erstes Anzeichen der vermeintlichen „Besserung“: Man verbot mir, über unser Jüdischsein zu sprechen. „Um nicht Antisemitismus zu provozieren“, wie man mir sagte, man sei ja ins Land der Täter immigriert. Die Cousine meines Großvaters staunte nicht schlecht, als ich im Alter von sieben Jahren mit meiner Mutter am Tel Aviver Flughafen erstmals vor ihr stand und meine Mutter fragte: „Darf ich wenigstens hier öffentlich darüber reden, dass wir Juden sind?“ Nein, gestaunt hat die gute alte Frau aus Kfar Saba eigentlich nicht. Sie tobte vor Wut.

Jahre später sollte ich mit einem Mal verstehen, dass ich Deutscher geworden bin. Ich lernte es nicht durch das deutsche Bildungssystem, sondern während Arbeitsaufenthalten im Ausland. Ich verstand, dass ich meine Gedanken auf Deutsch strukturiere, mich nach deutschen politischen Wertvorstellungen verorte und mir die deutsche Sprache so schmerzlich fehlen kann wie ein enger Freund. Ja, Deutsch wurde zu einem Freund, mit dessen Hilfe ich mich am natürlichsten selbst wahrnehmen und verstehen kann.

Der Freund ließ mich im Regen stehen

Trotz der engen Bindung, die wir zueinander entwickelten, wusste ich, dass mir etwas in dieser vermeintlichen Symbiose fehlt, aber konnte die Lücke nicht verorten. Ich geriet immer häufiger ins Straucheln, wenn sich dieser Freund auf mich bezog – ob positiv oder negativ. Ich verstand ihn mit seinen Komplexen und Besonderheiten irgendwann ziemlich gut und hatte für ihn bei mir zu Hause immer einen Schlafplatz frei. Diese Liebe fühlte sich oft ziemlich einseitig an: Der Freund ließ mich permanent im Regen stehen.

Meine Patchwork-Identität vervollständigte sich vorerst, als ich mit Mitte zwanzig für einen Job in die Ukraine kam. Ich studierte dort sowohl Hintergründe des seit 2014 tobenden Kriegs, als auch menschliche und politische Tragödien in den 90er Jahren. Im Kontext der ukrainischen Transformationsphase lernte ich den Migrationsprozess meiner Familie neu zu verstehen. Ich lernte viel über das Jüdischsein in der Ukraine und warum es nach wie vor ein schmerzhaftes Thema ist. Dass ich weniger über meine Familiengeschichte weiß als vermutet, lehrte mich vor kurzem ein Gespräch mit meinem Großvater.

Der 71 Jahre alte Mann, wortkarg und arbeitssüchtig, spazierte mit mir im Frühjahr durch Berlin, als er unvermittelt erwähnte, wer in unserer Familie in der Ukraine während der Schoah ermordet wurde. Die mich zeitlebens begleitende unausgesprochene Angst vor dem Jüdischsein bekam ein Gesicht – oder genauer: viele Gesichter und verworrene Familienstränge. „Warum hast du denn niemals etwas erzählt?“, fragte ich Großvater.

„Du hast nie gefragt.“ – „Ich bin der Einzige in dieser Familie, der immer wieder Fragen stellt.“

Die erdrückende Mehrdeutigkeit der Sprachlosigkeit

Wie Katja Petrowskaja in ihrem Buch „Vielleicht Esther“ illustriert, kann einen die Sprachlosigkeit mit ihrer erdrückenden Mehrdeutigkeit verfolgen, bevor sich die Worte und Geschichten ihre vorbestimmte Bahn brechen. Der Krieg verändere die Menschen, die ihn durchleben, genauso wie die Menschen, die über ihn schreiben, sagt Serhij Zhadan, Autor des Kriegsromans „Internat“. In dem Roman beschreibt Zhadan, wie Sprachlosigkeit Familien von innen zerfrisst und der Ukraine-Krieg neben seiner eigenen brutalen Dynamik auf die Menschen im Land wie ein unberechenbarer Katalysator persönlicher Konflikte wirkt. So schien er auch zu einem Katalysator bestimmter Entwicklungen in mir zu werden – auch wenn er glücklicherweise kaum Einfluss auf meine sozialen Beziehungen hatte. In vielen Fällen zerbrechen Familien dort durch divergierende politische Ansichten oder durch Tod, Flucht und posttraumatische Belastungsstörungen.

Igor Mitchnik.
Igor Mitchnik.
© Stiftung Mercator

Die Welt und meine Verortung in ihr geriet in eine unwiderrufliche Bewegung. Ich verstand, inwiefern meine multiple Identität – oder Patchwork-Identität – auch von der sich immer wieder in den Vordergrund drängenden Sprachlosigkeit bestimmt ist. Ich verstand, inwiefern hinter einem vielsagenden, auf den ersten Blick harmlosen Grinsen eines Menschen in postsowjetischen Kontexten ganze Geschichten verborgen sein können. In diesen Situationen erscheinen Gespräche wie Gruppentherapien einer Schicksalsgemeinschaft.

Der Moment einer Schicksalsgemeinschaft, den Juden und Ukrainer zusammen erleben können, konstruiert sich allerdings weder ethnisch noch sprachlich, nicht einmal abstrakt-kulturell und häufig nicht einmal historisch. Denn ihre historisch-politischen Narrative stehen häufig unvereinbar nebeneinander. Die daraus resultierende Sprachlosigkeit stellt allerdings oft eher eine Übergangslösung dar als ein Problem.

Die komplexe Realität schmerzt

Das führt zu einer Distanzierung verschiedener Gruppen voneinander, die eng miteinander verbunden waren und gemeinsam durch grausame Phasen der Geschichte gingen. Viele verharren in der Überzeugung, die Schoah sei die Tragödie der einen Gruppe und der Holodomor – die künstliche, von Stalin initiierte Hungersnot 1932 bis 1933 – die der anderen Gruppe. Genauso scheint der ukrainische Unabhängigkeitskampf von jüdischen Schicksalen entkoppelt zu sein. Denn die komplizierte Realität – dass etwa ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen während des russischen Bürgerkrieges ab 1917 in antijüdischen Pogromen kulminierten – ist äußerst schmerzhaft.

Hat diese Diversität und Komplexität, die auch deutsch-jüdische Migrantinnen und Migranten mit familiären Wurzeln im postsowjetischen Raum beschäftigt, Platz in den deutschen Debatten um Identität? Hier herrscht eher gähnender Stillstand. Ein Stillstand, den der Tagesspiegel-Kolumnist Deniz Utlu als „zweite Phase des Wiederaufbaus“ beschreibt, „die sich nicht mehr auf Häuser und Straßen konzentriert, sondern auf Identität“. Eindrücklich schildert er, wie sich die Mehrheitsgesellschaft ohne familiäre Migrationsgeschichten in Abgrenzung zu Menschen mit alternativen Geschichten neu zu definieren versucht.

In diesem endlosen und wegen seiner mangelnden Dynamik auch unglaublich langweiligen Prozess der Selbstfindung sind Menschen mit alternativen Geschichten nur Zaungäste in einem Theaterstück über deutsche Befindlichkeiten. Migranten und deren Nachfahren, schreibt Utlu, sind kaum mehr als eine „Projektionsfläche auf der Suche nach eigener Identität“, bei der die vermeintlich Fremden sich anzupassen hätten.

Während ich mich mit meiner Patchwork-Identität wohl fühle und kein Problem damit habe, sie als eine von vielen deutschen Realitäten zu beschreiben, weigert sich mein Freund Deutschsein, die Pluralität und die Patchwork-Identitäten in diesem Land als natürlich gewachsene Realität anzuerkennen.

Dobrindts Forderung negiert die Komplexitäten der Welt

Stattdessen kam Dobrindt. Im Januar schrieb der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag einen viel beachteten Meinungsbeitrag zur „Verteidigung unserer christlich-abendländischen Leitkultur“. Sein Einwurf diente der Minimierung von Komplexitäten in einer stets komplexeren Welt. „Wer in Deutschland sein will, muss mit uns leben – nicht neben uns oder gegen uns“, fordert er.

Ich nehme an, dass damit nicht nur die seit 2015 nach Deutschland flüchtenden Newcomer gemeint sind. Zwar behauptet Dobrindt, dass „der Einzelne und seine Würde ins Zentrum allen politischen Handelns“ gehöre und immer vor dem Kollektiv stehe – praktisch gilt das aber nur für diejenigen, die für das von Dobrindt avisierte Kollektiv vermittelbar sind. Individuelle Geschichten und Patchwork-Identitäten haben in diesem selbstreferenziellen Diskurs über das eigene und das vermeintlich Fremde keinen Platz. Mit seiner Forderung nach einer neu-alt-deutschen Heimeligkeit argumentiert er aus einer Volkspartei heraus, die angeblich die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Mitte widerspiegelt.

Assimiliert wird zuerst, gefragt wird später

Ein alternativer Diskurs könnte mit einer Öffnung der deutschen Identität für den ohnehin bestehenden gesellschaftlichen Pluralismus dazu beitragen, gemeinsam die bedrückende Sprachlosigkeit in diesem Land zu überwinden. Eine Sprachlosigkeit, die darin mündet, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft immer zunächst mit Forderungen an die Newcomer herantritt – an Geflüchtete in Zeiten der Migrationsmanagement-Krise seit 2015 oder schon zur Zeit der Migration meiner Familie. Es gilt die Maxime: Assimiliert wird zuerst, gefragt wird später.

Diese Assimilation sehe ich als wenig gewinnbringend an. Ich möchte nicht zugunsten eines „Wohlfühlpatriotismus“ so tun müssen, als bestünde keine Differenz von eher klassisch-deutschen Familiengeschichten, die in mindestens vierter Generation hier verwurzelt sind, zu meinen alltäglichen multiplen Lebenswelten – die sich zwischen postsowjetischer, jüdischer und deutscher Identität bewegen.

Ich war nicht erst 24 Jahre alt, als ich begriff, dass Jüdischsein in diesem Land Zeit meines Lebens ein schmerzhaftes Thema bleiben wird. Meine multiplen Bezugspunkte werden stets ein Problem darstellen. Verspricht die von Dobrindt geforderte „konservative Revolution der Bürger“ einen Platz für die Vielfalt? Es klingt derzeit kaum danach. Und der Freund lässt mich weiterhin im Regen stehen.

Igor Mitchnik, 1991 in St. Petersburg geboren, ist Sozialwissenschaftler und arbeitet zur Zeit als Mercator-Fellow für eine humanitäre Organisation in der Ost-Ukraine. Wir entnehmen seinen (hier gekürzten) Text dem Band: „Weil ich hier leben will …“. Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas (hg. von Walter Homolka, Jonas Fegert, Jo Frank. Herder, 224 S., 20 €). Der Band erscheint anlässlich des Jüdischen Zukunftskongresses, der vom 5. - 11. 11. in Berlin stattfindet.

Igor Mitchnik

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