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Katja Petrowskaja, 44
© Imago

Ukraine: Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja: Lieber ganz fremd als halb

Die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja über die Krise auf der Krim und ihren Roman „Vielleicht Esther“, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Ein Porträt

Erstens hat Katja Petrowskajas Zug Verspätung, weshalb sie zweitens zu spät kommt, was ihr drittens unangenehm ist, weil viertens gerade überhaupt so vieles in Unordnung ist in ihrem Leben, in dem fünftens die Ordnung wohl nie die bestimmende Kraft gewesen sein dürfte, auch wenn sie selbst das sicher nicht so sagen würde, sechstens.

Sie kehrt von einer Reise nach Hamburg zurück, wo sie dem Fernseh-Beckmann und seinen Gästen die ukrainische Krise erklären sollte. Gelungen sei ihr das leider überhaupt nicht, findet sie. Schnell nämlich drehte sich bei der Hamburger Sofadebatte alles um West versus Ost und Intervention oder Appeasement und Krim 2014 gleich Kosovo 1999, und inmitten all des polithistorischen Formelgerechnes sah Katja Petrowskaja bald den Raum schwinden für die Variable Mensch, die ihr persönlich enger am Herzen liegt. „Wir übernehmen die Sprache der Geopolitik“, sagt sie, und es klingt enttäuscht. „Die Sprache der Feldzüge, die Sprache Putins.“

Nun ist diese ukrainische Krise gleichzeitig eine, die Katja Petrowskaja sehr bewegt, bewegen muss, nicht alleine, weil sie in Kiew geboren wurde, der Krisenhauptstadt, die damals, 1970, noch die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik war. Vielmehr ist es so, dass neben der ukrainischen Seele in ihrer Brust auch eine russische Seele wohnt, ach, und noch ein paar andere, die bisher eigentlich so friedlich koexistierten, wie das bei multiplen Seelen eben möglich ist. Dass die nun plötzlich gegeneinander ausgespielt und aufgehetzt werden, das tut weh, es herrschen sozusagen bürgerkriegsartige Zustände im Seelenleben dieser Frau, kein internationaler Vermittler kann sie schlichten.

"Vor Klagenfurt haben mich alle für die Stadtverrückte gehalten"

Im Februar war sie zuletzt in Kiew, ihre Eltern leben dort immer noch, viele Freunde auch und Verwandte, die derzeit sehr in Aufruhr sind, und wenn Katja Petrowskaja diesen Aufruhr in Worte zu fassen versucht, atemlos und nicht immer ganz in der Lage, ihren eigenen Gedankensprüngen zu folgen, dann versteht man sehr schnell, warum sie in Hamburg auf dem Studiosofa Mühe gehabt haben muss, ihre ukrainische Krise in zwanzigsekündige Wortbeiträge zu übersetzen. Wer ihr persönlich begegnet, weiß, dass das Assoziative weniger eine Schwäche als eine Stärke ihrer Argumentationsführung ist. Auch wenn es dazu führt, dass Katja Petrowskaja nach dem zweieinhalbstündigen Gespräch in einem Berliner Café zwar sehr viel über den drohenden Krieg in der Ukraine gesagt haben wird, aber nur sehr wenig von der Art, die sich in nachvollziehbaren Zeitungssätzen wiedergeben ließe.

„Vor Klagenfurt haben mich alle für die Stadtverrückte gehalten“, sagt Katja Petrowskaja, Bezug nehmend auf den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, den sie im Juli mit einem Textauszug aus ihrem morgen erscheinenden Buch „Vielleicht Esther“ gewonnen hat. „Jetzt fangen die Leute plötzlich an zu denken: Vielleicht ist das ja doch alles ganz interessant, was die da erzählt. Das ist das Schlimmste, was mir passieren konnte. Ich wäre wirklich lieber die Stadtverrückte geblieben.“

Das, wovon das Buch erzählt, beginnt an einem Berliner Bahnhof, wo ein großer Bombardier-Schriftzug über den Köpfen der Passagiere hängt, und als ein iranischstämmiger jüdischer Amerikaner die Erzählerin fragt, was das denn solle, Bombardier, in einem Berliner Bahnhof, es sei doch wahrlich genug Gebombe ausgegangen von dieser Stadt, da erzählt die Erzählerin, vielleicht um den Mann, vielleicht auch um sich selbst zu beruhigen, es sei dies nur der Name eines Musicals, Bombardier, viele Leute reisten eigens nach Berlin wegen dieses Spektakels, und noch vieles andere mehr erzählt sie, „was ich auf keinen Fall als Lüge bezeichnen würde“.

Nach dieser Bahnsteigsverwirrung, die der nachfolgenden Reise den Ton geben wird, besteigt die Erzählerin, die „ich“ heißt und „Katja“, einen Zug nach Warschau, um sich im weiten Land zwischen Berlin und Kiew auf die Suche nach Verwandten zu machen, überwiegend toten, als da unter anderem wären:

– ein Mann, der Gertrud hieß, auch wenn das unwahrscheinlich klingt, aber sein Vorname war ein Akronym, zusammengezogen aus den Anfangssilben des sozialistischen Ehrentitels „Geroj truda“, Held der Arbeit;

– ein Mann, der nicht Petrowskij hieß, sich zu Tarnungsgründen aber so nannte, als er in den bolschewistischen Untergrund ging, und dessen Camouflage-Namen Katja Petrowskajas Familie nun schon seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich führt;

– schließlich eine jüdische Großmutter, die vielleicht Esther hieß, weshalb sie im Buch „Vielleicht Esther“ heißt, und die beim Einmarsch der Wehrmacht in Kiew den ordnungsliebenden Deutschen und ihren säuberlichen Aufrufen großes Vertrauen schenkte, ein Fehler natürlich, ein tödlicher;

– und viele, wirklich sehr viele andere mehr.

Überall halb fremd zu sein ist schwer. Dann lieber ganz fremd.

Ein bisschen was ist nebenbei auch eingeflochten über den Lebensweg der Erzählerin, die 1986, nach dem Atomunglück in Tschernobyl, von ihren Eltern zur Sicherheit nach Moskau geschickt wurde. Sie beendete dort die Schule, um anschließend im estnischen Tartu Literatur zu studieren, von wo es sie zur Promotion zurück nach Moskau verschlug. Es folgte eine Zeit des Pendelns zwischen Kiew, Moskau und Sankt Petersburg, bevor Katja Petrowskaja Ende der neunziger Jahre nach Berlin umzog, zusammen mit ihrem deutschen Mann.

Zwar blieb die Bindung an Kiew bestehen, doch während Katja Petrowskaja in Berlin Deutsch lernte, verpasste sie in ihrer Heimat die Phase der ukrainischen Nationsbildung, in der die russischsprachige Kiewer Intelligenz sich das Ukrainische wiederaneignete, eine Sprache, die Petrowskaja heute zwar versteht, aber nicht spricht. Ihre Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, habe einiges mit ihrer Nirgendwo-so-ganz-Zugehörigkeit im postsowjetischen Raum zu tun gehabt, sagt sie. „In Estland bin ich eine russische Okkupantin, in Moskau eine ukrainische Provinzlerin. Überall halb fremd zu sein ist schwer. Dann lieber ganz fremd in Deutschland.“

Auch wenn das Fremdsein in Deutschland natürlich seine eigenen Tücken hat. Es ärgert Katja Petrowskaja, dass auf dem Einband ihres Buchs nun das Wort „Auschwitz“ steht, obwohl es nicht im Buchinneren steht, genau wie es sie ärgert, wenn sie als Tschernobyl-Opfer bezeichnet wird. Eben das wollte sie nämlich nicht sein, Opfer, unter anderem deshalb hat sie das Buch auch auf Deutsch geschrieben, „damit das alle hier verstehen“. Leider werde sie nun aber trotzdem bei jedem zweiten Interview gefragt, ob sie denn nun Jüdin sei. „Die kürzeste Antwort auf die Frage, wer ich bin, ist mein Buch, und ich habe viereinhalb Jahre gebraucht, um sie zu formulieren.“

Warum sie als Ukrainerin auf Deutsch über deutsche Kriegsgräuel in der Ukraine schreibt, dafür fällt ihr dann noch ein weiterer Grund ein, diesmal ein sprachlicher: „Die Fehler, die ich auf Deutsch mache, haben sich erst negiert, dann haben sie sich multipliziert, und jetzt habe ich ein Guthaben.“ Katja Petrowskaja lässt den Satz kurz einwirken. „Mein Gott“, fragt sie dann, „ergibt das überhaupt einen Sinn?“

Ergibt es, irgendwie. Jedenfalls dann, wenn man sich auf die Logik dieser Erzählerin einlässt. Dass das nicht jedermanns Sache ist, zeichnete sich bei Petrowskajas Auftritt beim Bachmann-Wettbewerb ab. Als einziges Mitglied einer ansonsten begeisterten Jury erklärte dort der Österreicher Paul Jandl, er sei „etwas unglücklich verliebt“ in Petrowskajas Text, weil er dessen Vermischung von Fakten und Fiktion für eine „heikle Geschichte“ halte. Die Diskussion über seinen Einwand kreiste leider schnell um die üblichen Täter-Opfer-Fragen: „Sie meinen, wenn es erfunden ist, ist es Anmaßung?“, entgegnete Kritiker-Kollegin Meike Feßmann, die hinzufügte, es könne doch nicht sein, dass sich der Judenvernichtung nur annehme dürfe, wer in der „Todesstatistik der Literatur“ auftauche. Ein solches Generalverbot aber hatte Jandl wohl gar nicht aussprechen wollen – viel eher dürfte es ihm um die Frage gegangen sein, ob ein Text einerseits mit dem Versprechen biografisch-historischer Authentizität auftreten und andererseits mit Fiktivem jonglieren kann.

Katja Petrowskaja hat dazu eine klare Antwort: „Ich habe nichts erdichtet.“ Was sich im Buch ereigne, sagt sie, habe sich tatsächlich ereignet. Überhaupt, fügt sie hinzu, seien doch diese ganzen Geschichten viel zu irreal, um sie glaubhaft erfinden zu können. Dann springt sie schon wieder von der nächsten Assoziation zur übernächsten, und beim Zuhören begreift man sofort, was man beim Lesen vielleicht erst nach einer Weile versteht: dass nämlich Katja Petrowskaja mitnichten Reales zu Literatur umdichtet, sondern das Literarische von vorneherein in die Realität hineinträgt, und zwar in jedem Moment der Beobachtung, sie kann gar nicht anders.

Glücklich, sagt sie zum Schluss, sei sie übrigens gar nicht mit dem Buch. Warum? Sie schweigt. Denkt nach. Lange. Erst als man schon glaubt, dass da keine Antwort mehr kommt, sagt sie schließlich: „Es ist nicht fertig.“ Und nach einem erneuten, diesmal noch längeren Schweigen bleibt es bei dieser Antwort.

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Suhrkamp, Berlin 2014. 285 Seiten, 19,99 €.

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