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Leer zeigen sich die Halterungen für die Gedenkkreuze der Mauertoten neben dem Reichstagsgebäude an der Spree in Berlin.
© dpa

Diebstahl der Mauerkreuze: Mauerfall 2014?

Kunstaktion, Zynismus - oder Anstoß für eine neue Gedenkkultur? Das "Zentrum für politische Schönheit" bringt Berliner Mauerkreuze an die EU-Außengrenzen und provoziert eine Erinnerungskontroverse, pünktlich zum Mauerfall-Jubiläum.

Der Diebstahl von Gedenkkreuzen für die Mauertoten in Berlin-Mitte hat eine hochemotionale Debatte um „richtiges“ und „falsches“ Gedenken zum Ende dieses Erinnerungsjahrs 2014 ausgelöst. Es gibt vehemente Kritik an der jüngsten Kunstaktion des „Zentrums für politische Schönheit“, das auf die Flüchtlingskatastrophen in Europa aufmerksam machen will, indem es die Kreuze (mithilfe von Unterstützern in per Crowdfunding finanzierten Reisebussen) an diesem Wochenende an die EU-Außengrenzen bringt. DDR-Opferverbände und CDU-Politiker protestieren. Bundestagspräsident Norbert Lammert spricht von einer "heldenhaften Attitüde, die man für blanken Zynismus halten muss" und die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld von einem "Vorgeschmack darauf, wie der Weg zurück in den Totalitarismus aussehen wird".

Bei allem Respekt vor der Würde der Mauertoten und dem Gedenken an die Opfer der deutsch-deutschen Grenze erscheint die Kritik bei genauerem Hinsehen jedoch als kurzsichtig, befangen oder scheinheilig. Denn die provokante Aktion ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken, wie die Deutschen ihre im 20. Jahrhundert gewachsene Erinnerungskultur ins 21. Jahrhundert übersetzen wollen. Die Aktivisten selber formulieren es so: "Während in Berlin Ballons in die Luft steigen (...), bringt die deutsche Zivilgesellschaft in einem Akt politischer Schönheit die europäischen Außenmauern zu Fall. Hunderttausende Menschen sehnen sich nach einem neuen Mauerfall." 

Grundsätzlicher gefragt: Kann das Gedenken 2014 noch so aussehen wie 1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall. Sollen die fallenden Dominosteine von 2009 lediglich gegen aufsteigende Luftballons ausgetauscht werden? Braucht eine Demokratie nicht gerade das zivilgesellschaftliche Engagement für jene, die keine Lobby haben? Wie können im Zeitalter von Facebook und eingespieltem Parteiensystem neue Fragen aus historischem Anlass gestellt werden?

Außenminister Steinmeier hat unlängst vor der UN-Generalversammlung konstatiert, dass die Welt aus den Fugen gerät und bloßes Erinnern in diesem Gedenkjahr zu wenig wäre: „Was haben wir für die Zukunft gelernt?" Eine selten weitsichtige Rede eines deutschen Außenministers vor der Völkergemeinschaft, die Fragen an der Schnittstelle von Zeitgeschichte, Gegenwartsanalyse und Zukunftsvision berührte. Dennoch übersah das heimische Publikum sie weitgehend. Stattdessen wird der Mauerfall-Diskurs als Ost-West-Debatte geführt, die einen, wenn überhaupt, das Fürchten vor dem Völkerrechtsbrecher Putin lehren kann. Aber reicht das?

Der Initiator Philipp Ruch war Mauerflüchtling und assistierte bei Schlingensiefs Aktionen

Es besteht die Gefahr, dass die historische Bedeutung dieses präzedenzlosen Freudentages von 1989 unter den Teppich der deutschen, respektive westeuropäischen (National-)Geschichte gekehrt wird. "Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will,“ schrieb Cees Nooteboom in seinem Roman „Rituale“. Das gilt erst recht im Zeitalter der Globalisierung und sich radikalisierender Krisen, die stetig neue Fragen an die Geschichte provozieren. Kollektive Erinnerung, weiß die Gedächtnisforschung, lebt von den Generationswechseln, sie ist kein statisches Ritual, sondern ein dynamischer Prozess. Mehr als je zuvor wird die demokratische Erinnerungskultur von divergierenden Erinnerungsmilieus geprägt sein.

Wer sind die Menschrechtsaktivisten, die als „Kreuzdiebe“ diffamiert werden, obgleich sie doch eine Restaurierung der vergilbten Mauerdenkmale vom Spree-Ufer versprechen? Der Kopf des "Zentrums für Politische Schönheit“, Philipp Ruch, assistierte bei Christoph Schlingensief und promovierte unlängst an der Humboldt-Universität in Politischer Theorie. Er ist selber Mauerflüchtling, gebürtiger Dresdner, 1989 aus der DDR geflohen. Der „künstlerische Leiter" der Erinnerungsoffensive ist also gewiss kein linksradikaler Kreuzdieb, der historische Relikte entwendet - wie nach dem Mauerfall so mancher geschichtsvergessene Mauerspecht. Er ist vielmehr auch biografisch motiviert.

Erinnerungskonflikt der Generationen

Es handelt sich also um einen Erinnerungskonflikt verschiedener Milieus und Generationen, vielleicht auch um einen innerostdeutschen Konflikt. Die in den 70er Jahren geborenen DDR-Kinder von Bürgerrechtlern und Mauerflüchtlingen ticken nicht nur anders als DDR-verherrlichende Geschichtsverdreher, sondern sie unterscheiden sich auch von ihrer Elterngeneration, etwa den Angehörigen von Mauertoten oder Stasi-Opfern.

Für die Älteren ist der Unrechtsstaat DDR etwas Einzigartiges. Für die Jüngeren ist die DDR ein Unrechtsstaat unter vielen. Die Empörung über die vermeintlich entpolitisierte Generation Y ist oft groß. Aber es gibt auch wenig Beifall für überraschend politisierte, jüngere Generationsvertreter, die nicht den viel kritisierten Rückweg in den Biedermeier antreten oder ihre Karriereziele im McKinsey-Führungsseminar optimieren. Mit ihrer Erinnerungsoffensive verderben die Maueraktivisten manchem Erinnerungsroutinier die Vorfreude auf die zunehmend eingeübte Gemütlichkeit des ungemütlich vielschichtigen 9. November.

Kohl: „Nicht Freiheit schafft Instabilität, sondern deren Unterdrückung.“

Leer zeigen sich die Halterungen für die Gedenkkreuze der Mauertoten neben dem Reichstagsgebäude an der Spree in Berlin.
Leer zeigten sich die Halterungen für die Gedenkkreuze der Mauertoten neben dem Reichstagsgebäude an der Spree in Berlin.
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Wurden die Mauerfall-Kinder möglicherweise nicht nur von der Wende, der Wiedervereinigung und dem World-Wide-Web geprägt, sondern auch von den Gewaltexzessen der 90er Jahre in Bosnien und Ruanda, bei denen die Staatengemeinschaft versagte? Vielleicht gehen ihnen die Gesichter der Flüchtlinge, die Bilder der Katastrophen von Lampedusa und anderswo weniger aus dem Kopf als der altvorderen Generation. Auch das ist Humanismus: Ob Ost, ob West - das simple Niederlegen von Kränzen hat für viele Jüngere ausgedient. Ein Glücksfall für Geschichtsdidaktiker, ein Alptraum für die Organisatoren nostalgischer Erinnerungsveranstaltungen.

Die Kritiker des "Zentrums für politische Schönheit" verweisen auf grundlegende Unterschiede zwischen den Todesumständen an der DDR-Mauer und den Grenzen der "Festung Europa“, zwischen den Grenzsoldaten der DDR-Diktatur und den Frontex-Grenzsoldaten in EU-Demokratien. In der Tat: Während die Todesschützen an der Mauer einen „Schießbefehl“ ausführten, folgen die EU-Grenzpatroullien einem „Abschreckungsmandat".

Aber Menschenrechtsberichte deuten darauf hin, dass auch hier Mord und Totschlag verübt werden. Angesichts zurückgewiesener Flüchtlingsboote auf hoher See. Angesichts von Flüchtlingen, die in Marokko vom baumhohen Grenzzaun hinabstürzen. Angesichts von Flüchtlingen, die nach Gummibeschuss im Meerwasser ertrinken.

Neue Mauer, neue Opfer

Diese Grenztoten in einem Atemzug mit den Mauertoten von damals zu nennen, mögen Erinnerungsroutiniers als zynisch empfinden. Aber hat es nicht auch etwas Menschenverachtendes, wenn auch am 9. November Menschen an jenen neuen Mauern sterben, während der Opfer der alten Mauer gedacht wird? Und wie unterscheiden sich die Flüchtlinge von damals und heute? Die einen waren Europäer, die anderen sind es nicht. Aber die Fluchtmotive sind durchaus vergleichbar. Verbietet sich da nicht eine Konkurrenz der Mauertoten des 20. und 21. Jahrhunderts? Zumal die Zahlen bezeichnend sind. Die Zahl der Todesopfer an den europäischen Meeresgrenzen seit 1995 übersteigt die Toten des Eisernen Vorhanges um ein Dutzendfaches.

Diese Erkenntnis schmerzt, widerspricht sie doch dem Menschenrechtsversprechen der Europäischen Wertegemeinschaft. Tag für Tag wird der Artikel 13, Absatz 2, der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 mit Füßen getreten. Er betrifft die Reisefreiheit, das Wort des Jahres 1989. Ein Vierteljahrhundert später ist Reisefreiheit für die einen eine Selbstverständlichkeit, für die anderen ein unerfülltes Heilsversprechen. Am Rande unseres grenzenlosen europäischen Traums herrscht der Alptraum.

Die kollektive Erinnerung und die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg

Leider hat das „Zentrum für politische Schönheit“ nur wenige Angehörige jener Mauertoten in die Aktion eingeweiht, deren namenssignierte Kreuze sie sich ausgeliehen haben. Der Ärger der Trauernden ist verständlich. Gleichzeitig jedoch ist die Aufmerksamkeit für das schlichte, nahezu in Vergessenheit geratene Denkmal im Regierungsviertel größer als je zuvor.

Dass die Kritik an der Erinnerungsoffensive vor allem aus der CDU kommt, zeugt außerdem von Nachholbedarf gegenüber der eigenen Parteiengeschichte. Es war Kanzler Helmut Kohl, der soeben von EU-Kommissionspräsident Juncker gefeierte Europäer, der nach dem Mauerfall im November 1989 sagte: „Nicht Freiheit schafft Instabilität, sondern deren Unterdrückung.“ Wenn die Mauerkreuze wieder an ihren Platz neben dem Bundestag zurückgekehrt sind, ist es an der Zeit, über die Zukunft der hiesigen Erinnerungskultur und den Freiheitsbegriff im Zeitalter der Globalisierung nachzudenken. Auch über die Krise internationaler Politik und die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Manch einer sieht im 21. Jahrhundert bereits das nächste "Jahrhundert der Extreme" (Eric Hobsbawm). Da kann es nicht schaden, der nächsten Generation zuzuhören und sich über eine Erinnerungskultur 2.0. zu verständigen. Kollektive Erinnerung ist ein kulturelles Gut, dessen sich eine demokratische Gesellschaft fortwährend gemeinsam vergewissert - um daraus Schlüsse für das politische Handeln abzuleiten. Ein schmerzhafter Prozess.

Tobias Bütow

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