zum Hauptinhalt
William Butler, Sarah Neufeld, Richard Reed Parry, Win Butler, Jeremy Gara (hinten), Regine Chassagne und Tim Kingsbury in der Wuhlheide
© imago/Martin Müller

Arcade Fire in der Wuhlheide: Manche Mädchen sind dicker als andere

Viel Tempo, viel Druck, viele Gefühle, ein Rest Unbehagen: Das überwältigende Konzert der kanadischen Band Arcade Fire in der Berliner Wuhlheide.

So gehört sich das, wenn eine der größten Indiebands der Gegenwart, die man kaum noch als solche bezeichnen kann, kurz davor ist, die Parkbühne der Wuhlheide zu betreten: Die Sonne zeigt sich nach vier langen Regentagen endlich wieder, die Wolken verziehen sich nach und nach, und schon herrscht leicht kühles, dämmerig-blaues Kaiserwetter. Und als die dieses Mal schätzungsweise neun Musiker von Arcade Fire ihre Plätze auf der Bühne eingenommen haben, auch das ist keine übermäßige Überraschung, beginnen sie ihren Set mit „Everything Now“, dem übersprudelnden Titel- und Eröffnungsstück ihres Ende Juli erscheinenden neuen Albums.

„Evyerything Now“ soll Gegenwartsfeier und zugleich Kritik sein am ständigen „Gerade, eben, jetzt“, der steten Online-Alarmbereitschaft, unter anderem mit dem Refrain „Everything now!/I need it, I want it, I can’t live without it“. Der Song jedoch klingt nur nach Feier und Freude mit seinem Vorwärtsdrang, seinem Discobeat, seiner Hymnenhaftigkeit, seinen „La La La La La Las“, seinen Abba- und Simple-Minds-Referenzen. Von wegen „Don’t you forget about me".

Alles jetzt sofort: Arcade Fire lassen keinen Zweifel dran, dass es an diesem Abend nur um die reine Gegenwart geht, um das Hier und Jetzt mit ihrer Musik, was nichtsdestrotrotz bei Publikum wie Band willkürliche wie unwillkürliche Erinnerungen hervorruft. Die kanadische Band gründete sich Anfang der nuller Jahre. Ihr 2003 veröffentlichtes Debütalbum „Funeral“ war damals eine große Wundertüte mit Hippie-, U-2- und diversen Wohlklang-Accessoires, und mit jedem weiteren Album wurde die Wundertüte voller, wurden die Fans der Band mehr, die Hits hittiger, raumgreifender und damit die Auftrittsorte größer. Mit Songs wie „Suburbs“, „Ready To Start“ oder „Reflektor“ dürfte der Gefühlshaushalt einer der letzten Indie-Generationen schön ausgepolstert worden sein. Diese ist nun komplett gekommen: Menschen zwischen eher 30 und 50 als zwischen 15 und 30, und Arcade Fire geben ihnen das volle Best-of-Programm aus den letzten fünfzehn Jahren.

Einen Anti-Bush-Song gibt es

Auf der Bühne herrscht, wie man das von der Band kennt, quirlige Unübersichtlichkeit. Im Hintergrund ist eine Art Aquarium zu sehen, in das alles Mögliche hineinprojiziert wird, Bandsymbole, Filme, Flammen, die Silhouetten der Musiker. Diverse Male werden Instrumente getauscht, Plätze gewechselt. Nur Sänger und Bandleader Win Butler steht zumeist im Zentrum, in Schwarz gekleidet, mit weißen Schuhen, immer mal auf ein Podest kletternd (warum bloß? Ist er so klein?), während seine Frau, die andere Arcade-Fire-Bandleaderin Régine Chassagne, sich zunächst auffallend zurückhält, später hier mal ein tragbares Keyboard bedient, dort die Schellen rasseln lässt und schließlich einzelne Songs hauptamtlich singt, natürlich das umwerfende Stück „Sprawl II“ im „Suburbs“-Hitblock.

Um Tempo geht es Arcade Fire, um Druck, Power, gute Laune, vom ersten Stück an. Ihr gesamter Auftritt hat Überwältigungscharakter, wird bestimmt von einer gezielt überwältigenden, bisweilen orchestralen Popmusik. Es gibt kein Innehalten, keine Nachdenklichkeit, kaum einen ruhigen Moment (glücklicherweise aber auch kein Konfetti und keine Variety-Show, wie bei der "Reflektor"-Tour). Man wundert sich sehr, dass Win Butler einen der Songs ihres zweiten Albums „Neon Bible“, „Intervention“ ankündigt als Song, der auch als Protestsong gegen George W. Bush zu vestehen war, und anfügt, dass zur Zeit ja alles noch viel schlimmer geworden sei.

Disco 2017

Entziehen kann man sich dieser Überfallmusik nur schwer, das will an diesem Abend sowieso niemand. Das Konzert bildet gut ab, was vermutlich en gros auf dem neuen, von Daft Punks Thomas Bangalter, dem Portishead-Mastermind Geoff Barrow und dem Pulp-Bassisten Steve Mackay mitproduzierten neuen Album zu hören ist: treibende, stetig auf die Tube drückende Pop-Musik, mit viel Synthies, viel Discobeats, viel Jubelchören. Vielleicht wird „Everything Now“ wirklich der Nachfolger des wegweisenden Pulp-Albums „Different Class“ von Mitte der neunziger Jahre. Disco 2017 statt Disco 2000. So klingen zumindest auch die beiden anderen Stücke, die schon veröffentlicht worden und bei den Streaming-Diensten zu hören sind: „Creature Comfort“ und „Sign Of Life“. Letzteres ist ein Cool-Kids-Coming-of-Age-Drama mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Zeilen wie „Looking for signs of life/Looking for signs every night/But there’s no signs of life/ So we do it again“. Und „Creature Comfort“ diskutiert ebenfalls die Probleme Heranwachsender: „Some boys hate themselves/Spend their lives resenting their fathers/Some girls hate their bodies/Stand in the mirror and wait for the feedback“. Das hat etwas Spekulatives, Anbiederndes, so als würden sich der 37 Jahre alte Butler und seine Frau um ein sehr viel jüngeres Publikum bemühen wollen.

Aber auch in diesen Songs, gerade in dem auf der Bühne schließlich hochdramatischen, von eben jenen Flammen im Hintergrund begleiteten und vorn mit viel Nebel eingehüllten Stück „Creature Comfort“ gibt es ganz viele, stets gut kommende „Na-na-na-na-nas“, um Fans, sich selbst und überhaupt die Welt zu umarmen und willkommen zu heißen.

Ach, doch, das ist alles großartig und schön, das ist toller und schäumender Stadionrock. Ein Unbehagen bei so viel demonstrierter Gefühligkeit, bei so viel Sprudel und guter Laune bleibt. Gut möglich, dass genau dieses Unbehagen im Sinn von Arcade Fire ist..

Zur Startseite