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Arcade Fire auf der Bühne.
© dpa

Arcade Fire im Astra: Heute sind wir alle anders

Vaudeville, Glamrock, Konfetti - und ein Hauch "Shining": Arcade Fire geben im Berliner Astra ein „Geheimkonzert“.

In Sachen Mode haben Indie-Konzerte meist wenig zu bieten. Das Publikum bevorzugt es, betont unstylish zu den Auftritten ihrer Lieblingsbands zu kommen, auch die Bands selbst sind nicht gerade Fashion Victims. Ein für Indie-Konzerte völlig ungewohntes Bild zeigt sich an diesem Dienstagabend im Astra, beim Auftritt von Arcade Fire. Man schaut anders als sonst gern herum, und es gibt viel zu sehen. Die Männer tragen alle einen Anzug, zumeist einen dunklen, aber auch weiße oder silbrig schimmernde sind zu sehen; die Frauen haben sich ebenfalls in Schale geworfen, in kurze oder lange Schwarze, und immer wieder ist jemand mit einer Maske oder glitzernd geschminkt oder mit blauen Haaren zu sehen.

Der Grund dafür: Arcade Fire hatten vor ihrem so genannten Berliner Geheimkonzert, das bei Bekanntwerden innerhalb einer Stunde ausverkauft war, um Abendgarderobe oder anderweitige Kostümierung gebeten, und tatsächlich haben sich daran fast alle der 1300 Menschen im Publikum gehalten. Auch die Arcade-Fire-Musiker selbst tragen Anzug oder Glitzerkleid, mit Rüschenaufsatz oder auch einem angedeuteten Skelett. Doch warum die Band aus Kanada nun zu dieser Art von Kostümball lud, erschließt sich im Verlauf des Konzerts nicht. Nur weil die Band selbst das Konzert unter dem Pseudonym Reflektors spielt, wie es kurz auf einem Plakat in der Revaler Straße auch angekündigt war? Heute Abend sind wir alle mal jemand anders?

Mischung aus Vaudevill-, Glamrock- und "Shining"-Geisterparty-Atmosphäre

Trotzdem ist die Mischung aus Vaudeville-, Glamrock- und „Shining“-Hotel-Overlook-Geisterparty-Atmosphäre, die sich nach und nach einstellt, sehr schön – selbst wenn sie nicht gerade zu der Rockmusik von Arcade Fire passt. Die setzt nämlich auf Überschwang, auf Überwältigung, auf ein Durcheinanderwirbeln des Gefühlshaushalts ihrer Hörer, auf ein Zuviel, in dem man sich dann auch schon mal verheddern kann. Unvermittelt beginnt die Band mit dem Hit und Eröffnungsstück „Reflektor“ ihres gleichnamigen, vor kurzem veröffentlichten neuen Albums, und das Konzert wird dann von Arcade Fire vor allem mit den Stücken davon bestritten. Das ist hier schließlich weniger ein Fankonzert als ein Testlauf für die „Reflektor“-Tour.

Bei der Popkritik war das Album ja vor allem für seine musikalische Vielfalt gelobt worden – und dafür, dass die aus dem kanadischen Montreal stammende Band es jetzt viel besser verstehe, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und Spannung langsam aufzubauen. Das soll ihr der neue Produzent, der New Yorker Althipster James Murphy von ehemals LCD Soundsystem, beigebracht haben. Live hört man davon nicht so viel. Im Astra geht jedes Stück sofort, und wenn die oft langen Songs dann ihre bloß repetitiven und nicht spannungssteigernden Momente haben: umso besser. Trotzdem fragt man sich, ob es wirklich immer drei, vier Gitarren sein müssen, ob mancher Streichereinsatz nicht überflüssig ist, ob manche Weltmusikeinlage nicht bloß Zierrat ist?

Arcade Fire drückt auf die Gefühlstube.

Die Musik von Arcade Fire wäre auch in einem Stadion gut aufgehoben – genauso wie am Lagerfeuer mit nur ein paar Leuten, schließlich hat diese Band auch etwas von einer Hippie-Kommune, die einfach ihren Spaß haben will, aber vor der Liebe, Gott und Erlösung versprechenden Durchgeknalltheit ihrer amerikanischen Kollegen von The Polyphonic Spree glücklicherweise zurückschreckt.

Arcade Fire verstehen es, wunderschöne Melodien herbeizuzaubern, und dann drücken sie doch wieder eine Idee zu stark auf die Gefühlstube, gerade wenn sie im Chor singen. Für Altvordere stellt sich da immer mal wieder so ein Pearl- Jam-Gefühl ein: Als deren Album „Ten“ vor 20 Jahren veröffentlicht wurde, war das auch eine Offenbarung, gerade in der Verbindung von Siebziger-Rock und Gefühligkeit, es blieb aber immer auch ein mittelschweres Unbehagen.

Selbstironie gehört nicht zu den Band-Eigenschaften

Gelegentlich wünscht man sich an diesem Abend, die Band würde mal einen Break machen, würde sich mal neben sich stellen und dem Publikum vermitteln: Natürlich ist das hier eine Show, sind die Emotionen kalkuliert, natürlich seifen wir euch ordentlich ein! Aber Selbstironie gehört nicht zu den Eigenschaften von Arcade Fire – da hilft auch der Becher mit dem Bier nicht, den sich der Sänger und Mastermind der Band, Win Butler, aus dem Publikum reichen lässt, um daraus zu nippen und ihn sich dann über den Kopf zu schütten. Oder der überdimensionierte Pappkopf, den er sich während eines Songs aufsetzt.

Schade ist, dass Régine Chassange, Butlers Ehefrau, sich etwas zurückhält, nur bei dem Stück „Sprawl II“ von dem „The Suburbs-Album“ darf sie einmal voll und ganz ihre glockenhelle Stimme zum Tragen bringen. Irgendwann regnet es Konfetti en masse, und schließlich grölen Arcade Fire mit allen zusammen ihren frühen Hit „Wake up“ – auf dass hier auch wirklich jeder wieder von der Stephen-King-Hotel-Overlook-Geisterparty schadenfrei zurück in die Wirklichkeit kehre.

Gerrit Bartels

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