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Wim Wenders in Cannes 1982.
© Marcello Mencarini

Wim Wenders 70. Geburtstag: Magische Momente

Heute wird der große Filmemacher und Fotograf Wim Wenders 70. Wir gratulieren mit acht Erinnerungen an unvergessliche Filmszenen.

Szene aus "Alice in den Städten"
Szene aus "Alice in den Städten"
© Imago

1974 - Alice in den Sädten

„Eiscafé“ steht in Schnörkelschrift über der Tür. Philip Winter parkt den geliehenen Renault schwungvoll unter dem Pfeiler der Schwebebahn. Die kleine Alice hat Hunger –wie so oft auf ihrer Suche nach dem Haus der Oma irgendwo in den Gassen von Wuppertal. „Wenn ich's seh', erkenne ich's wieder“, ist ihr einziger Anhaltspunkt. Innen im winzigen Café eine Jukebox, auf der unter Glamoursternen das Wort Stereo prangt. Daneben Mirko, vielleicht zehn. Die Eistüte in der Hand, summt der Junge versonnen den Canned-Heat-Song „On the road again“ mit. Stampfender Rhythmus, Mundharmonika-Sound, Alan Wilsons Falsett.
Dann das große Eis für Alice, dazu eine Tasse Kaffee auf ovalem Serviertablett für den Mann, der unversehens zum Kindermädchen geworden ist. Vorm Fenster eine Baustelle und ein Haufen Sand, der Schatten einer vorübergleitenden Schwebebahn. Da sagt Alice: „Die Oma wohnt doch nicht in Wuppertal.“ Innehalten für ein paar Sekunden, kaum merklich nur strafft sich Philips Rücken. Dann steht er auf und geht aus dem Bild. Wieder einmal macht sich jemand davon, so wie Alices Mutter zuvor. Aber Philip lacht nur, kopfschüttelnd, seinem Bild im Toilettenspiegel zu. Dann ist der Song zu Ende, die Fahrt geht weiter. Die folgende Schwarzblende ist nur das Komma in einer längeren Geschichte. CLAUDIA LENSSEN

Szene aus "Im Lauf der Zeit"
Szene aus "Im Lauf der Zeit"
© Promo

1976 - Im Lauf der Zeit

Einmal, in einem unvordenklich fernen Jahrhundert, war Deutschland ein weites Land, und nirgends war es weiter als da, wo es endete, an den Grenzzäunen seines Zonenrandgebiets. Gleichgültig dehnte und streckte sich die Zeit nach allen Richtungen. Allein der Gedanke, dass ein weißer Pfeil namens ICE diese Unendlichkeit eines Tages aufzehren könnte, wäre verwegen gewesen. Schon einer wie Bruno (Rüdiger Vogler), der in einem umgebauten Möbelwagen über die Dörfer zog, um Kinoprojektoren zu reparieren, war darin ein Hochgeschwindigkeitsvagabund. Einer wie Robert (Hanns Zischler) aber, der in seinem VW-Käfer mit durchgetretenem Gaspedal und einer Staubwolkenschlange im Schlepptau über eine Straße im Wendland raste, war darin gar nicht erst vorgesehen.

Damit beginnen die 175 schwarz-weißen Minuten von „Im Lauf der Zeit“: mit einem König der Gelassenheit, der sich im Führerhaus seines abgestellten MAN zu rasieren beginnt, und mit einem anschwellenden Motorengeräusch, in das sich ein Held der Sprachlosigkeit todesbereit einhüllt, bevor die Wasser der Elbe über ihm und seinem Wagen zusammenschlagen. Eine groteske Lachnummer für Bruno, eine Wiedererweckung zum Leben für den tropfnass ans Ufer wankenden Robert. Von nun an werden sie entlang der Grenze eine Weile gemeinsam durch die Lande reisen - durchs Hessische, wo sie die Orte Machtlos und Friedlos passieren, später durchs Fränkische.
Bewegung ist alles, wo der Freiheit, die sie im Überfluss haben, auch Lähmendes innewohnt. Zwei Männer ohne Frauen, sehnsuchtslos sehnsuchtsvoll, unberührbar in ihrer hellwachen Melancholie, begabte Schweiger, die auch ohne ein einziges Wort Freunde sind, bis sich ihre Wege trennen. Kein anderer Film von Wim Wenders atmet eine ähnliche Mischung von Offenheit und Präzision. Seine Gesten und Momente, beim Drehen aus täglichen Improvisationen geboren, setzen weit unterhalb von dem an, was am Ende eine erzählbare Geschichte ergeben würde. Aber sie fügen sich zu etwas zusammen, das ganz im physischen Außen noch einmal bezwingend den inneren Zusammenhang einer zerfasernden Zeit wachruft. GREGOR DOTZAUER

Szene aus "Paris Texas"
Szene aus "Paris Texas"
© obs

1984 - Paris, Texas

Das Gedächtnis ist ein lausiger Geselle. Hat die Szene falsch gespeichert, als Acht-Minuten-Monolog von Nastassja Kinski in der Peepshow-Kabine. Kinski im pinkfarbenen Angorapullover, umwerfend schön, jung, nah, unerreichbar. Der knallrote Mund. Die blonde Haarsträhne. Das Lachen, bei dem sie den Kopf zurückwirft. Das Unbehagen, das ihr Gesicht überzieht, der Schmerz, der sich abzeichnet. Marilyn Monroe, wie ein Europäer sie träumt. Aber es ist alles ganz anders. Harry Dean Stanton hält den Monolog, erst später, hinter der Spiegelwand, als er beichtet, wie er die Liebe zerstört hat und das Glück, und sie kann ihn nicht sehen. Auch sie spricht erst, als er zurückgekommen ist in den Puff, sie trägt jetzt Schwarz und hockt unter dem Spiegel, und die Kamera wendet den Blick nicht ab.
Es ist ganz anders und doch genau so in „Paris, Texas“ von 1984. Ein Mann kommt aus der Wüste, zu den Klängen von Ry Cooders Gitarre, Wim Wenders verwandelt „Im Lauf der Zeit“ in einen Western, er taucht den Mythos Amerika in leuchtende Farben. Die Highways, Diners und gottverlassenen Tankstellen, die Sehnsucht nach dem Vater-Mutter-Kind-Glück und dem hohen Himmel darüber – alle Farben Rot, alle Farben Blau. Und am Ende taucht dieses wasserstoffblonde Saloongirl auf, Nastassja Kinski als Calamity Jane, eine Hure, ein Engel, du kannst mir alles erzählen, es könnte abgeschmackt sein. Aber ihr Gesicht transzendiert jedes Stereotyp, es sagt die ganze Wahrheit über Frauenleben und Männerfantasien und die Einsamkeit, die sich daraus ergibt. Und darüber, dass Wenders nicht aufhört, die alten Kinoträume weiterzuträumen, wider unser aller besseres Wissen. CHRISTIANE PEITZ

Szene aus "Der Himmel über Berlin"
Szene aus "Der Himmel über Berlin"
© dpa

1987 - Der Himmel über Berlin

Curt Bois und Otto Sander am Potsdamer Platz. Schwarz-Weiß-Film. Achtzigerjahre. West-Berlin. Die Zeit steht im Kino immer still, dafür wurden die bewegten Bilder ja erfunden. Aber in den Filmen von Wim Wenders sieht man es. Man spürt es geradezu körperlich. Die Geschichte, ein anderes Wort für Zeit, wie angehalten. Der alte Curt Bois mit Mütze und Ohrenschützern, eingemummelt, ist zu hören mit seltsamen Sätzen von „verborgenen Passhöhen“, die es auch im Flachland geben soll, und: „Nur noch die älteren Spuren führen weiter.“ Bois floh aus Berlin vor den Nazis schon im Februar 1933, landete in Hollywood, spielte in „Casablanca“ einen Taschendieb, kam bereits 1950 nach Berlin zurück. Und hier? Geht er an einem eiskalten Tag mit einem Engel nahe der Mauer herum und träumt von „Durchschlüpfen“, die sich finden auf der Erde und im Himmel. Und dass es eine andere Welt wäre, „eine Geschichte ohne Totschlag und Krieg“, wenn jeder sie sähe. Otto Sander hört zu. Man hört durch ihn. Sieht durch ihn und ihn hindurch, den himmlischen Abgesandten. Die Kamera schwenkt zur Philharmonie. Bilder, die sich einbrennen: Was vermag Kultur gegen Geschichte? Am Himmel zieht ein Vogelschwarm. Es ist der „Himmel über Berlin“. Morbide bis in die Zehenspitzen. Eine Zeit des Übergangs, die man als für immer und ewig gegeben empfand. Wie das so ist mit dem Leben überhaupt. Curt Bois – kleiner Trost von einem großen Komikercharakter – lebte neun Jahrzehnte. Sonst werden ja immer nur die alten Nazis so alt. RÜDIGER SCHAPER

Filme von 1993 bis heute

Wim Wenders 2012.
Wim Wenders 2012.
© AFP
Szene aus "In weiter Ferne, so nah!"
Szene aus "In weiter Ferne, so nah!"
© Imago

1993 - In weiter Ferne, so nah!

Die mit einem abgewandelten Walter-Benjamin-Zitat überschriebene Fortsetzung von „Himmel über Berlin“ verliert sich leider weithin in Rührseligkeit und einem kruden Thrillerplot. Doch diese 4 Minuten 10 sind stark und anrührend. Heinz Rühmann, bei der Premiere 91 Jahre alt, spielt in seiner letzten Rolle den Chauffeur Konrad, einen faltigen Alten mit Nickelbrille und Schirmmütze. In einer halb verfallenen Werkstatt spricht er, beobachtet von Otto Sander als Engel Cassiel, mit seinem Dienstwagen, einem Adler vom Baujahr 1938.
Die Szene ist das Gegenstück zum Auftritt von Curt Bois im „Himmel über Berlin“, der vergeblich auf einer West-Berliner Mauerbrache den alten Potsdamer Platz mit dem Haus „Vaterland“ suchte. Und eine Hommage an Helmut Käutners Trümmerfilm „In jenen Tagen“, in dem ein Horch durch die NS-Zeit bis in die Nachkriegsgegenwart kreuzte. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie das war, als du rauskamst“, sagt Rühmann und beginnt zu erzählen: der „Anschluss“ Österreichs, Einmarsch in der Tschechoslowakei, Kriegsbeginn.
Es geht, wie oft bei Wenders, um deutsche Geschichte, um Mauern, Schutt und Schuld. Rühmann hatte unter den Nazis Karriere gemacht - auch mit Propagandafilmen wie „Wunschkonzert“ und „Quax, der Bruchpilot“. Otto Sander kramt im Fußraum des Autos und zieht eine Schuhcremedose hervor, auf der ein Hakenkreuz prangt. Ein Symbol des Mitläufertums? Nein. In ihr steckt bloß ein alter Zahn. CHRISTIAN SCHRÖDER

Szene aus "Buena Vista Social Club"
Szene aus "Buena Vista Social Club" (1999), einer Dokumentation von Wenders über die gleichnamige südamerikanische Band.
© Promo

1998 - Buena Vista Social Club

Ein festliches, bis auf den letzten Platz gefülltes Theater in den Augenblicken davor. Die noch leere Bühne. Stimmen. Raunen. Schemen. Wim Wenders filmt eine Musikerwartungsmasse im Halblicht. Wann wäre eine Masse schöner? So fängt das an. Schon manche haben diese Sekunden festgehalten: Ende der wirklichen Welt, Beginn der Musik. Aber so wie hier? Endlose Verzögerungen. Dann endlich die ersten Töne des „Chan Chan“, Schwenk auf die Uferpromenade von Havanna: Der Ozean wirft sich zum dunklen Schlag der Trommel auf den Malecón, gewalttätig und zärtlich zugleich. Gischt auf der Fahrbahn. Untergang? Aufgang?
Auch dieses Motiv – Atlantik auf dem Malecón – könnte man verbraucht finden. Aber das gilt nur für kleinere Regisseure. Originalität heißt nicht, etwas zum ersten Mal zu zeigen, sondern es wie zum ersten Mal zu zeigen. Wenders macht selbst den Ozean zum Komplizen seines Films. Einmal heißt es, Kuba sei ein Land voller Perkussionisten, die keine sind. Sie hätten „diesen sanften Anschlag, der so selten zu finden ist“. Wenders besitzt genau diesen Anschlag, in jedem Film neu, in jedem anders. Er ist ein Perkussionist des Kinos. KERSTIN DECKER

Szene aus "Million Dollar Hotel"
Szene aus "Million Dollar Hotel"
© Promo

2000 - The Million Dollar Hotel

Ganz bestimmt ist „The Million Dollar Hotel“ kein Meisterwerk des Meisters. Erst 15 Jahre alt, scheint die damals leicht futuristisch gemeinte Geschichte um das Außenseiter-Narrenschiff in einem ramponierten Hotelkasten in L.A..sogar um ein Vielfaches gealtert. Und ganz üble Nachredner werden behaupten, der Film sei heute beim besten Willen allenfalls unter dem Einfluss jener bewusstseinstrübenden Drogen durchzugucken, die auch den meisten Figuren dieser cineastischen Freakshow das Hirn vernebeln.
Aber.

Da ist TomTom, der zarte Zappelphilipp und gute Geist der verarmten und verrückten Dauergäste. Und da ist die total verspulte Eloise, über die der schüchtern verliebte TomTom sagt, sie lebe nur tags in ihrem Körper, „und nachts überlässt sie ihn anderen“. Und da ist, nach ein paar dem lärmenden Ensemble weggestohlenen Annäherungen, eine scheu hingebrachte letzte Nacht. Kaum eine Minute dauert die Szene: Eloise liegt, Kopf am Fußende, auf dem Bett, TomTom sitzt am Boden, beider Köpfe schmiegen sich verkehrtrum aneinander, Eloise wispert was und krault dem wie elektrisiert Zuhörenden die Wange, und von draußen stürzt das Nachtlicht herein, als wär's ein Bild von Edward Hopper.
Nur diese Szene wiedersehen (und dazu die erste und die ziemlich letzte, die fast dieselben sind), das wäre es. Jeremy Davies und Milla Jovovich jedenfalls waren im Kino nie wieder so zart, so stark. Und so schön. JAN SCHULZ-OJALA

Szene aus "Every Thing Will Be Fine"
Szene aus "Every Thing Will Be Fine"
© Donata Wenders/Neue Road Movies

2015 - Every Thing Will Be Fine

Zur Magie wird ein Moment oft durch seine Überraschung. Ein plötzliches Ereignis – und vor den Filmfiguren und den Zuschauern tut sich ein Abgrund auf. Und der Abgrund schaut, wie Herr Nietzsche sagte, in uns zurück. Ebendiesen Augenblick existenzieller Verfremdung ruft die Schlüsselszene in Wim Wenders’ jüngstem Film wach. Der Schriftsteller Tomas fährt abends durch die kanadische Schneeeinsamkeit, als ihm vom Abhang bei einem erleuchteten Holzhaus ein Junge auf einem Schlitten jäh ins Auto fährt. Nur ein dumpfer Schlag, Tomas (James Franco) steigt aus, vor der Stoßstange des Pick-ups hockt der Bub, schreckensstarr, aber äußerlich unverletzt. Tomas bringt ihn und den Schlitten hoch zum Haus, und die Mutter (Charlotte Gainsbourg) in der Tür fragt: „Where is Nicolas?“ In ihren Augen spiegelt sich sofort alles Ungesehene, aber Geschehene. Gemeint ist der kleinere Bruder des geretteten Christopher – es war also ein zweites Kind auf dem Schlitten. Von nun an ist die schiere Handlung, alles Melodramatische, Elegische oder die überflüssige 3-D-Technik unwesentlich. Vielmehr liegt ein stiller Schrecken auch in den vermeintlich heilen Bildern: Verschwindet etwa ein Kind kurz auf einem Rummelplatz, ahnt man sofort, wie nah dem Glück auch die mögliche Katastrophe ist. Dies eher beiläufig zu erzählen, ist Wim Wenders’ Kunst. PETER VON BECKER

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