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Bällebad bei der Internetkonferenz re:publica
© dpa/Britta Pedersen

Digitalkonferenz re:publica: Macht das Netz die Debattenkultur kaputt?

Wenn Historiker eines Tages zurückblicken auf die Nuller- und Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts – was werden sie feststellen? Ein Beitrag zur Berliner Digitalkonferenz re:publica.

Was wurde eigentlich aus „counter speech“? Zur Erinnerung: Das war dieses ebenso sympathische wie kostengünstige Konzept, das Facebook im Frühling 2016 aus dem PR-Hut zauberte, als die Wellen des Hasses mal wieder besonders hoch schlugen. Man wolle die Idee in Deutschland „etablieren“ und die „aktive Gegenrede“ fördern, schrieb der Zuckerberg-Konzern damals. Die couragierte bürgerliche Öffentlichkeit sollte richten, was im digitalen Raum gewaltig schieflief. Mit sachlichen Argumenten und in besonnenem Ton könnten sich doch nette Nutzer in ihrer Freizeit den Hetzern entgegenstellen. Isolieren, bloßstellen, widerlegen, so lautete das Rezept.

Aus „counter speech“ ist keine große Bewegung geworden, und Facebook hat – Stichwort Wählerbeeinflussung und Cambridge Analytica – längst andere Sorgen. Doch auch wenn nicht mehr täglich darüber berichtet wird, bleibt das Problem aktuell: Das Internet ist, von einigen Nischen abgesehen (Handarbeits-Foren, Welpen-Seiten, Mama-Blogs), kein sonderlich kuscheliger Ort.

Hier teilt man lautstark aus, hier kriegt man schnell auf die Fresse. Der nächste Aufreger ist stets nur einen Klick entfernt, die Empörungsmöglichkeiten schier unendlich. Daran hat auch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das der damalige Bundesjustizminister Maas 2017 gegen den Widerstand vieler durchgeprügelt hat, nichts geändert.

Warum fallen online die Regeln des Anstands viel schneller als in direkten Gesprächen? Warum werden manche Nutzer von niedersten Instinkten übermannt? Radikalisierung der Ränder, gesellschaftliche Zersplitterung, Echoräume und Filterblasen – das sind die Begriffe, mit denen das Phänomen in den letzten Jahren beschrieben wurde. Einer Lösung näher gekommen ist die Öffentlichkeit nicht. Dabei gibt es kaum noch kulturelle oder politische Debatten, die nicht von Stürmen aus dem Netz vorangetrieben oder gar dominiert wird.

Das Phänomen Shitstorm wird längst wissenschaftlich untersucht

In den Pressestellen von Institutionen, Parteien, Verbänden und Unternehmen grassiert die Shitstorm-Angst; ein falsches Wort, schon könnte einem alles um die Ohren fliegen. Der Wind im Netz dreht bekanntlich nicht nur schnell, er ist auch unberechenbar.

Längst ist das Thema in der wissenschaftlichen Forschung angekommen. Psychologen machen unter anderem den Wegfall von Wahrnehmungskanälen für die verbalen Ausfälle verantwortlich. Wer nicht sieht, hört, spürt, was seine Äußerungen beim Gegenüber bewirken, kommuniziert enthemmter. Gruppendynamische Effekte sind ebenfalls nachweisbar. Menschen rotten sich gerne zusammen – und blicken dann umso zorniger in Richtung des vermeintlichen Feindes. Das Internet ist weder Auslöser noch Schuldiger, aber es verstärkt den Hang zur Rudelbildung und Rechthaberei.

Das alles hat bei den Diskursteilnehmern Spuren hinterlassen. Die einen sind vorsichtiger geworden, verbal geschmeidiger, versuchen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Die Schere im Kopf schnippelt pausenlos. Andere hauen umso impulsiver in die Tasten, nutzen Stilmittel wie Dramatisierung, Gerücht, Verkürzung. Die Provokation in inzwischen 280 Zeichen ist zur eigenen Gattung geworden. Nicht nur US-Präsident Donald Trump hat das Format perfektioniert. Viele tun es ihm gleich. Zwar ist Twitter, daran muss man gelegentlich erinnern, für den Großteil der deutschen Bevölkerung im Alltag als Kommunikationskanal faktisch irrelevant. Nur ein Prozent nutzt laut aktueller ARD/ZDF-Onlinestudie den Kurznachrichtendienst täglich. Auch von Facebook halten sich weiterhin über 50 Millionen Deutsche komplett fern.

Das ändert allerdings nichts daran, dass die bekannten sozialen Netzwerke zu medial omnipräsenten Bühnen geworden sind. Jeden Tag wird ein neues Stück aufgeführt. Die Zuschauer, die nicht live dabei sein wollen, werden über Bande auf dem Laufenden gehalten. Die klassischen Medien haben sich in ihrer – durchaus zwiespältigen – Multiplikatoren-Rolle eingerichtet: Sie transportieren den Lärm bis ins letzte Wohnzimmer, machen ihn sichtbar und damit, indirekt, auch wirkungsvoller. Dabei ist die unreflektierte Gleichsetzung von Netz und öffentlicher Meinung fatal. Spricht Volkes Stimme wirklich aus den Foren und Kommentarspalten? Statistisch lässt sich das nicht belegen. Am ehesten sind die breiten Massen beim Botschaftsübermittler WhatsApp anzutreffen: 64 Prozent der Deutschen chatten hier mindestens einmal pro Woche, bei den unter 30-Jährigen sind es über neunzig Prozent. Der Rückzug ins Private boomt.

Monopole und Nischen, beides prägt das Netz

So haben sich Vernetzung-Utopisten das nicht vorgestellt. Man muss nicht immer nur Bertolt Brecht bemühen, der schon im Jahr 1932 von einer Umfunktionierung (jeder Mensch ein Sender!) des neuen Mediums Radio träumte. Es reicht schon, auf die 90er Jahre zurückzublicken. Die Ideen der damaligen Internetpioniere erscheinen heute fast naiv. So beschwor der kürzlich verstorbene Texter von Grateful Dead, John Perry Barlow vor 22 Jahren in der „Declaration of the Independence of Cyberspace“ den „globalen sozialen Raum“, der gerade entstehe und die unvoreingenommene zwischenmenschliche Begegnung möglich machen werde: „Wir erschaffen eine Welt, in die alle eintreten können.“

Räume sind in der Tat entstanden. Der konstruktiv-kontroverse „Austausch“, auf den auch Brecht hoffte, findet dennoch viel zu selten statt. Zwar ist das Netz strukturell von Monopolen geprägt – nur wenige Plattformen dominieren die Märkte. Inhaltlich und ideologisch gesehen aber reiht sich eine Nische an die nächste. Die Nutzer halten sich am liebsten dort auf, wo sie sich spiegeln können und auf Gleichgesinnte treffen.

Wenn Historiker und Politologen eines Tages zurückblicken auf die Nuller- und Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts – was werden sie feststellen? Wird unsere Gegenwart als die Epoche in die Geschichte eingehen, in der die westlichen Demokratien zu schwächeln begannen? Wenn ja, welche Rolle wird man den digitalen Echoräumen und den von Internet und klassischen Medien angeheizten, immer kürzer werdenden Empörungszyklen zuschreiben? Vielleicht werden künftige Generationen sich fragen, warum die große, passive Mitte partout kein Gegengift fand gegen diese zersetzenden Kräfte.

Früher war die Re:publica mal ein Treff von ein paar hundert Spezialisten

2017 hatte die Berliner Digitalkonferenz re:publica, die in ihren Anfängen mal ein Treffpunkt von ein paar hundert Internet-Euphorikern war, „hate speech“ und „fake news“ zu Schwerpunkten ausgerufen. Von Optimismus war da wenig zu spüren. Selbst der technologische Fortschritt wird es wohl nicht richten. Wirksame Filter-Software gegen Volksverhetzung und Verschwörungstheorien? Ein sich selbst bereinigendes Netz? Davon sei man weit entfernt, meinten viele Experten. In diesem Jahr will die re:publica die Filterblase platzen lassen. Mal sehen, was drin ist.

Berlin, 2. - 4.Mai, Infos: 18.re-publica.com/de, digitales Volksfest am 5. Mai im Park am Gleisdreieck 10-21 Uhr

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version hieß es, die "Provokation in 140 Zeichen" per Twitter sei zu einer Gattung geworden. Es sind natürlich viel mehr Zeichen - genau 280. Das haben wir korrigiert.

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