Shitstorm: Wie das Netzgetöse zum Medienereignis wird
Die Entladung, schrieb Elias Canetti, ist der Augenblick, in dem sich alle gleich fühlen. Das ist die Magie des „Shitstorm“, der Empörungswelle aus dem Netz. Für die demokratische Streitkultur aber ist reine Empörung tödlich, meint unsere Autorin.
Es ist zurzeit nicht schwer, sich online unbeliebt zu machen. Der Autor und Musiker Sven Regener hat das diese Woche genauso erlebt wie FDP-Generalsekretär Patrick Döring. Joachim Gauck stand ausnahmsweise nicht in der Schusslinie, dafür haben Sigmar Gabriel und Norbert Lammert ein bisschen was abgekriegt. „Shitstorm“ war der Anglizismus des Jahres 2011, gemeint ist die spontane Wutbürgerwelle im Internet. Und davon gibt es mittlerweile fast täglich eine neue.
Früher waren Hitler oder Auschwitz die roten Tücher, die man schwenkte, wenn man unbedingt medial gescholten werden wollte. Heute sind es – nicht nur, aber vor allem – Law-und-Order-Thesen zur digitalen Gesellschaft, mit denen Politiker binnen Stunden zur unfreiwilligen Netzberühmtheit aufsteigen können. Oft reicht ein Nebensatz in einem Interview, eine verrutschte Formulierung, ein einzelnes Reizwort: Er hat Netzsperren gesagt! Er will die Vorratsdatenspeicherung! Er ist gegen Anonymität im Internet! Er verurteilt die Gratis-Mentalität! Er warnt vor dem kriminellen Potenzial im Internet! Er beklagt die Tyrannei der Massen!
Kaum sind die Satzfetzen im Umlauf, schon bellt die Netz-Öffentlichkeit lautstark zurück. Die Gegenrede, die zum Shitstorm wird, lässt die argumentative Auseinandersetzung dabei meist schnell hinter sich und mutiert zur wüsten Beschimpfung, zur persönlichen Diffamierung. Die Standardvorwürfe: keine Ahnung, selbst schuld, Internet nicht verstanden, blöd, hässlich, Arschloch. Die Geschwindigkeit des Echtzeitmediums leistet der Entsachlichung ebenfalls Vorschub: Keiner will der Letzte sein, der sich bloggend oder twitternd zu einem vermeintlichen Skandal oder einer verbalen „Entgleisung“ äußert.
„Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die Entladung“, schreibt Elias Canetti in „Masse und Macht“. „Sie ist der Augenblick, in der alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten los werden und sich als Gleiche fühlen.“ Übertragen auf die Psychologie des Shitstorms heißt das: Die spontan Empörten fühlen sich aufgrund der Diskursexplosion, die sie innerhalb ihrer digitalen Mikroöffentlichkeit auslösen, schnell als mächtige Gemeinschaft. Das Kollektiv wiederum wirkt selbstverstärkend, eventuell auch radikalisierend. Wer sich umgeben von Gleichgesinnten glaubt, die alle einen gemeinsamen Feind im Blick haben, schreit vielleicht noch ein bisschen lauter.
Hören sollen das aber nicht nur die Gescholtenen, sondern auch die „alten“ Massenmedien. Denn denen kommt bei der Entstehung von Shitstorms eine wichtige, wenn auch zwiespältige Rolle zu: Einerseits gehört es zu einer ausgewogenen politischen Berichterstattung, die Kritik aus dem Netz aufzugreifen und zu dokumentieren. Andererseits wird unter dem Deckmantel der Objektivität gern auch mal süffisant und genüsslich aus den persönlichen Beleidigungen zitiert. Aus der Wut einiger Tausender lässt sich prima Infotainment für Millionen stricken. Der Shitstorm selbst wird zum Medienereignis.
„Ich kann mir vorstellen, dass Parteien diese Form der Kommunikation nervös macht“, sagte Patrick Donges, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Greifswald. „Da kann sich innerhalb weniger Stunden etwas zusammenbrauen, das man nicht sieht, dem man nicht vorbeugen und das man in seinen Folgen kaum einschätzen kann.“ Denn nicht immer geht dem Shitstorm eine aktuelle populistische Provokation voraus. Manchmal, das konnte Joachim Gauck in den letzten Wochen erleben, entwickeln sogar Zitate aus lange vergessenen Interviews ein spätes Eigenleben. „Politikerinnen und Politiker nehmen das natürlich als Kontrollverlust wahr“, so Donges, „als eher zufälliges Ereignis, dem sie machtlos ausgesetzt sind.“
Die zwei Seiten einer Medaille: Wie der Shitstorm zur öffentlichen Meinungsfindung beiträgt - und wann die Diskussion aus den Fugen gerät.
Das fragwürdige Niveau vieler digitaler Kommentare, so mutmaßte Norbert Lammert vor einigen Tagen, habe maßgeblich mit der Anonymität zu tun. Für den Shitstorm, der in Vandalismus umschlägt (Profile hacken, Webseiten lahmlegen und so weiter), mag das stimmen. Auf soziale Echoräume wie Facebook oder Twitter trifft das kaum noch zu. Hier wird auch unter echtem Namen Dampf abgelassen. Unter den Beteiligten herrscht dabei durchaus rhetorischer Ehrgeiz, schließlich gilt es auch, sich innerhalb der Aufmerksamkeitsblase gegenseitig mit Wortschöpfungen und Spitzfindigkeiten zu übertrumpfen.
Was passiert, wenn man sich mit den Piraten anlegt, konnte ein CDU-Kreisverband kürzlich erfahren.
„Empörung dient nie einer konstruktiven Auseinandersetzung“, sagte Medienwissenschaftlerin Christiane Eilders von der Universität Düsseldorf, „sondern kann nur der Anfang eines solchen Prozesses sein.“ Tatsächlich mündete der Zensursula-Shitstorm 2009 in eine erfolgreiche außerparlamentarische Oppositionsbewegung gegen das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz. Und vor einigen Wochen führte die Aufregung um Acta zu einer breiten Debatte über das Zustandekommen und die möglichen Folgen des internationalen Anti-Piraterie-Abkommens. Im besten Falle setzt also nach einem Shitstorm ein akribisches Analysieren und Diskutieren ein. Doch nicht immer ist das der Fall. Manchmal führen die gegenseitigen Unterstellungen lediglich zur Verhärtung der Fronten. Alle fühlen sich in ihren jeweiligen Vorurteilen bestätigt. Er habe das Gefühl, schreibt ein resignierter Leser auf www.spreeblick.com anlässlich des Shitstorms, den Urheberrechtsverfechter Sven Regener gerade über sich ergehen lassen muss, „dass eine konstruktive, faire und interessante Diskussion über Urheberrechte und Inhaltsvergütung im Netz heute nicht mehr möglich ist.“
Was folgt daraus für alle, die in der Öffentlichkeit stehen? Möglichst wenig Angriffsfläche bieten, umstrittene Themenfelder meiden, sich spontane Äußerungen gänzlich verkneifen? Schwammigkeit ist wahrscheinlich eine effektive Vorsichtsmaßnahme, hilft aber wiederum nicht bei der Profilierung. Erstmals hat vor einigen Wochen ein Politiker den Shitstorm deshalb sogar billigend in Kauf genommen. Bewusst hatte sich CDU-Hinterbänkler Ansgar Heveling gegen den vermeintlichen Meinungsmainstream im Netz gestellt. Vielleicht auch in der Hoffnung, hinterher umso mehr analoges Schulterklopfen zu ernten, mit vorhersehbarem Ergebnis.
Das Problem mit den Shitstorms sei, so hat es der Autor und Interneterklärer Sascha Lobo mal ausgedrückt, dass sie den Betroffenen einen Grund gäben, die im Kern möglicherweise berechtigte Kritik nicht annehmen zu müssen. Wer maßlos beschimpft wird, braucht gar nicht mehr auf Argumente und Zwischentöne zu achten, sondern darf sich seinerseits in ablehnendes Schweigen hüllen. „Mit Gleichmut“, meint Lobo, überlebe man einen Shitstorm übrigens am besten. Für den einzelnen Betroffenen ist das vermutlich ein guter Rat. Für die demokratische Streitkultur allerdings ist es tödlich, wenn eine Seite nur noch schrill brüllt – und die andere sich pfeifend die Ohren zuhält.