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Manche nennen sie einen Rockstar. Therapeutin Esther Perel.
© Kirk Irwin/AFP

Paartherapeutin Esther Perel: Machen wir’s doch komplizierter!

Esther Perel ist eine der berühmtesten Paartherapeutinnen der Welt. In ihrem Podcast "Where Should We Begin?" kann man ihr bei der Arbeit zuhören. Die Zeitschriftenkolumne.

Womit sollen wir beginnen? Die Frage führt schon tief hinein in die kommunikativen Knoten der Paare, die sich in Esther Perels New Yorker Praxis begeben. Denn was für die eine Seite der Anfang allen Unglücks war, trifft die Wahrnehmung der anderen oft nicht im Entferntesten. Einig sind sich die Paare, die sich zu dreistündigen Therapiesitzungen versammeln, die für Perels Podcast „Where Should We Begin?“ (mittlerweile in der zweiten Staffel gratis auf audible.de und iTunes) kondensiert und anonymisiert werden, am ehesten darin, dass sie mit ihrem Beziehungslatein am Ende sind.

Das hat es so noch nicht gegeben: Zeuge spontaner Gespräche zwischen intelligenten und selbstkritischen Menschen werden zu können, die sich in Schlingen verfangen haben, die nur Dritte auflösen können. Es sind verletzte Paare, die einander tief verbunden sind und in ihren Einsamkeiten doch nebeneinander herleben: heterosexuelle, schwule und lesbische Paare, die zuweilen auch mit interkulturellen Schieflagen kämpfen. Vielfach ist fraglich, ob sie je wieder zueinanderfinden werden, und Perel denkt gar nicht daran, ihnen das Blaue vom Himmel zu versprechen.

Mit entwaffnender Klugheit legt sie, geduldig zuhörend und schlagfertig kommentierend, die Scharniere frei, in denen sich die Mechanik der jeweiligen Beziehung erschöpft hat. Für sie gibt es nicht einfach Reiz und Reaktion, Schuld und Sühne, Seitensprung und Kollaps. Es gibt nur ein Netz ineinandergreifender Geschichten, in denen die Änderung eines Details in einer vermeintlichen Nebensache sofort eine Veränderung in der vermeintlichen Hauptsache bewirkt. Und so ist es jedes Mal von Neuem ihr Ehrgeiz, die Monströsität einfacher Sachverhalte zu verringern, indem sie deren Komplexität erzählend steigert.

Macht der Affären

Mit dieser Strategie ist sie eine der erfolgreichsten Paartherapeutinnen der Welt geworden. Die Klickraten ihrer TED Talks liegen bei über 20 Millionen. Ihr jüngstes Buch „The State of Affairs: Rethinking Infidelity“, das Anfang 2019 unter dem Titel „Die Macht der Affäre – Warum wir betrügen und was wir daraus lernen können“ bei HarperCollins auch auf Deutsch erscheint, ist ein Bestseller. Und bei Festivals wie „South By Southwest“ in Austin, Texas, wo sie Anfang März die Keynote „The Future of Love, Lust, and Listening“ (unter anderem auf YouTube) hielt, wird sie offen als Rockstar der Psychotherapie apostrophiert.

Esther Perel ist so etwas wie die Nachfolgerin der Sex-Päpstin Ruth Westheimer. Mit ihr teilt sie auch eine Beziehung zur Schoah. Während Westheimers Eltern aber in Auschwitz ums Leben kamen, überlebten Perels Eltern den Holocaust. 1958 in Antwerpen geboren, erlebte sie zu Hause wie viele Angehörige der zweiten Generation eine Mischung aus Schweigen und brutaler Unverblümtheit. Sie studierte in Jerusalem Psychologie und französische Literatur, bevor sie in Cambridge, Massachusetts, ihren Master machte und nach New York ging, wo einer ihrer Schwerpunkte die Traumaforschung wurde. Auch bei Perel geht es um Sex, allerdings als eine Form von Nähe, die dem Gespräch, das Paare miteinander führen, insofern nachgeordnet ist, als Sex allein, ohne das erotische Fluidum von Worten und alltäglichen Berührungen, keinerlei Stabilität garantiert.

Beziehungen sind für Perel Texte, die es ständig neu zu deuten und anders weiterzuschreiben gilt. „Write well – edit often“, fordert sie in ihrer Keynote: Schreibe sorgfältig und überarbeite das Geschriebene immer wieder. Sie vermittelt eindringlich, dass es sich dabei nicht um ein Rezept, sondern in Zeiten, in denen Partnerschaften paradoxen Erwartungen an die Vereinbarkeit von Sicherheitsbedürfnis und Abenteuersinn unterliegen, um eine unendliche Aufgabe handelt. Das beginnt schon bei der Partnerwahl: Statt mit religiösen Zwängen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten kämpfen wir mit unserer übergroßen Freiheit.

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