Auszug aus "Vielleicht Esther": Achilles’ Ferse: Der Siegertext von Katja Petrowskaja
„Vielleicht Esther“ heißt der Text der diesjährigen Klagenfurt-Siegerin. Es geht um die jüdische Urgroßmutter der Schriftstellerin, die von den Nazis ermordet wurde. Der Roman soll im MÄrz 2014 bei Suhrkamp erscheinen, hier ein Ausszug.
„Eine der ersten Geschichten, die meine Mutter mir vorgelesen hat und die sie mir danach, wer weiß warum, noch mehrmals nacherzählte, als ob in diesen Wiederholungen eine belehrende Kraft stecke, war die Geschichte von Achilles und seiner Ferse. Als seine Mutter ihn im Fluss der Unsterblichkeit badete und ihn dabei an der Ferse festhielt, sprach meine Mutter mit schmeichelnder Stimme, als ob die Geschichte schon zu Ende sei; sie hielt ihn an der Ferse, sagte sie, ich weiß nicht mehr, war es die linke oder die rechte (...)
Der Fluss war kalt, der Säugling schrie nicht, es war im Schattenreich und alle glichen den Schatten, sogar der dicke Säugling sah aus, als wäre er ausgeschnitten aus Papier. Sie badete ihn im Fluss, erzählte meine Mutter, damit er unsterblich wurde, aber die Ferse hatte sie vergessen. Ich erinnere mich daran, wie mich an dieser Stelle die Angst jedes Mal so packte, dass meine Seele in die Fersen rutschte, wie man auf Russisch sagt, wenn man von Furcht ergriffen wird, vielleicht ist es sicherer für die Seele, wenn sie sich in die Fersen zurückzieht und dort bleibt, bis die Gefahr vorbei ist. In diesem Moment konnte ich mich nicht mehr bewegen und kaum noch atmen, ich wusste, dass die Ferse, die Achilles' Mutter hielt, etwas Unabwendbares verkörperte, etwas Verhängnisvolles. Ich dachte auch an den bösen Zauberer aus dem Märchen, Koschej, der Unsterbliche, der zwar sterblich war, aber sein Tod hockte in der Nadelspitze, die Nadel im Ei, das Ei in der Ente, die Ente wohnte auf der Eiche und die Eiche wuchs auf einer Insel, von der niemand wusste, wo sie ist. Und hier - eine nackte Ferse! Ich sah den Schatten meiner Mutter an der Wand, der wie eine Gestalt auf einer Terrakotta-Amphore aussah, ich dachte an die Mutter von Achilles, an den schwarzen Styx und an das dämmrige Schattenreich, dann an unseren breiten Fluss, den ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule überquerte, an unser Schattenreich und wieder an meine Mutter, die die Geschichte vom schnellfüßigen Achilles unvorstellbar lang erzählte, episch und abschweifend, sie erzählte von Troja, von der Freundschaft mit Patroklos und vom Zorn. Sie stieß das Wort Zorn mehrmals aus, und zornig erzählte sie weiter, wie Achilles wegen seiner Freundschaft mit Patroklos starb, direkt in die Ferse von einem Pfeil getroffen, den Paris schoss und Apollon leitete (...)
Und so wurde die Geschichte von Achilles zu meiner eigenen Blöße, zu meinem Schwachpunkt, denn meine Mutter hat mich in dieser Geschichte gebadet, im Fluss der Unsterblichkeit, als ob ich so den Schutz der Unsterblichen hätte erhalten können, aber meine Ferse hat sie vergessen, meine Ferse, wo meine Seele sich, geplagt von Angst und in Vorahnung eines Verhängnisses, zusammenrollte, und ich begriff, dass jeder eine Blöße haben muss, die Ferse, die Seele, der Tod, – der einzige Beweis der Unsterblichkeit, eigentlich.“
Den vollständigen Siegertext finden Sie hier.
Katja Petrowskaja
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