Filmdrama über Scheinehen: Liebe und Integration
Über den Wolken: Ilker Çataks Drama „Es gilt das gesprochene Wort“ beleuchtet das Thema Scheinehen - und kommt ohne Klischees aus.
Dieser Film besitzt die gleiche Vertraulichkeit und Intimität wie sein Titel verspricht: „Es gilt das gesprochene Wort“. Daher rühren seine Kraft und Wahrhaftigkeit. Er besetzt Zwischenräume, von deren Existenz wir nicht einmal wissen, obwohl sie unser Handeln bestimmen. Regisseur Ilker Catak hat einen mikroskopischen Blick.
Schon diese erste Szene auf dem Standesamt: ein tief verunsicherter Bräutigam, dessen Blicke ständig nach Halt zu suchen scheinen. Also nicht der Mann, bei dem eine Frau sich anlehnen dürfte. Die Standesbeamtin ist sichtlich irritiert. Traut sie hier gerade einen desorientierten türkischen Kurden, dessen deutscher Wortschatz sich in der Silbe „Ja!“ weitgehend erschöpfen dürfte, und eine Frau mit einer verblüffenden Grundhärte, die gewiss alle denkbaren Motive hat zu heiraten, nur eines gewiss nicht: die Liebe?
Die fragile Geisteslage der Standesbeamtin ist die des Publikums: Der Film erzählt in jedem Augenblick viel mehr als das, was er erzählt. „Es gilt das gesprochene Wort“ ist Ilker Çataks zweite Regiearbeit nach dem turbulenten Coming-of-Age-Trip „Es war einmal in Indianerland“, ein Melodram der dritten Art.
Der Mensch ist erpressbar, wenn er überleben will
Marion (Anne Ratte-Polle) ist Pilotin. Sie hat eine einzige Szene im Cockpit, in der sie eine wohlgelaunte Ansprache an die Passagiere hält. Aber die wenigen Augenblicke genügen, um zu begreifen, dass das eigentliche Leben dieser Frau über den Wolken stattfindet. Alles, was darunter ist, sind Sekundärphänomene. Und dann die Diagnose: Brustkrebs. Ihre einzige Frage: Wann ist die OP? Und da man die plötzlich leere Zeit doch irgendwie füllen muss, findet sich Marion plötzlich an einem türkischen Hotelpool wieder – und sieht sich den Avancen des Poolboys gegenüber, der sie offenbar für eine Frau hält, der gegenüber solches Betragen passend erscheint.
Ihre Dialoge sind kurz, die Einstellungen lang. Oğulcan Arman Uslu als Poolboy Baran und Anne Ratte-Polle spielen alle Nuancen aus. Wie jeder von uns ist er zugleich er selbst und ist es nicht, denn das Leben neigt dazu, uns zu verkennen. Welche Demütigung die Rolle des Gigolos für den jungen Kurden bedeutet, ist an den wenigen unwillkürlichen Kundgebungen seiner Gesichtsmuskulatur ablesbar. Aber der Mensch ist ungemein erpressbar, wenn er überleben will, zumal ein heimatloser Ex-Soldat wie Baran, was ihn zu völlig der Wahrheit widersprechenden Auskünften veranlasst wie: Ich mache jede Arbeit!
Nicht der geringste Reiz dieses Films besteht darin, dass weder Baran noch Marion in einer einzigen Minute des Films ganz deckungsgleich sind mit sich selbst. Die Dreistigkeit des Gigolos empört Marion. Er belästigt sie und will dafür auch noch nach Deutschland mitgenommen werden? Wir könnten heiraten, schlägt er vor. Sie lacht. In Momenten wie diesem öffnet sich der Graben, der die Kulturen trennt. Sie ist eine nicht mehr ganz junge, unverheiratete Frau. Muss sie da nicht dankbar sein, wenn sie noch einer will? Denn eine unverheiratete Frau ist eine große Verlegenheit, eine Zumutung für sich und alle anderen.
Integration ist schwer genug
Die Sicherheit eines Regisseurs verrät sich nicht so sehr in dem, was er zeigt als in dem, was er nicht zeigt. Marions Hamburger Unter-den-Wolken-Liebe versteht gar nichts mehr. Was sie dazu brachte, diesen unmöglichen Jungen zu heiraten, erklärt Marion nie. Es ist wohl so: Menschen, die ihre Chance ergreifen, beeindrucken sie. Auch sie braucht jetzt wieder eine Chance, eine unverfügbare, sonst sieht sie den Himmel nie wieder vom Cockpit aus. Ist Chancengerechtigkeit ein zureichender Heiratsgrund?
Je mehr Baran Marion kennenlernt, desto weniger begreift er, warum sie ihn geheiratet hat. Bald sagt er „Captain“ zu ihr. Integration ist schwer genug, aber Integration in der Ehe erst! Man hätte eine Komödie aus diesem Stoff machen können – und ihn wohl verraten. Çatak und seine großartigen Spieler aber halten sich an den Temperamentspegel des Satzes „Es gilt das gesprochene Wort“. Und dann wird aus größtmöglicher Ferne doch etwas wie zweitgrößtmögliche Nahferne. Fernnähe. Aber sehr fragil und immer fast am Gefrierpunkt.
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