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„Die Liebe gibt es in vielen Dingen.“ Navid Kermani, 1967 in Siegen als Sohn iranischer Einwanderer geboren. Der Schriftsteller, Publizist und habilitierte Orientalist erhielt 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
© Peter-Andreas Hassiepen

Navid Kermani im Interview: "Liebe ist das, was wir nicht als Liebe bezeichnen"

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Navid Kermani über seinen neuen Roman – und seine Rolle als öffentlicher Intellektueller.

In Ihrem neuen Roman trifft ein Schriftsteller in einer westdeutschen Provinzstadt eine Frau wieder, mit der er 30 Jahre zuvor eine Liaison hatte, sie gehen zu ihr nach Hause, reden über ihr Leben und die Liebe. Doch kommen in diesem Buch noch viele andere Autoren zu Wort, die französische Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ist „Sozusagen Paris“ ein Roman – oder nicht vielmehr ein Romanessay?

Ich weiß, dass mancher Leser vor allem den Plot haben will und die essayistischen Passagen, die Gedanken aus und zu anderen Büchern überschlägt – aber ich kann den Roman nur so schreiben, wie ich ihn haben möchte. Auch „Große Liebe“, mein Roman von 2014, in dem ich die Vorgeschichte meiner Hauptfiguren erzähle, von ihrer Verliebtheit, war ja im heute üblich gewordenen Sinn kein gelungener oder gattungstreuer Roman. Literatur, also auch neue Literatur, besteht viel mehr aus anderer Literatur, als es aus der Perspektive des Lesers den Anschein hat. Es gibt natürlich das reale Leben, aus dem man schöpft, aber als Autor schreibt man zugleich seine Lektüren fort.

Ihr Schriftsteller, der Ich-Erzähler von „Sozusagen Paris“, sagt häufig Sätze wie „Ich fürchte, dem Leser kommen die ständigen Bezüge zur Literatur eher bemüht vor“ oder „Aber was hilft’s, wenn mich die Literatur am Ende doch mehr interessieren wird als das, was wirklich geschieht?“ Sind solche metafiktionalen Anmerkungen nicht auch abschreckend?

Aber den erwarteten Unmut von Lesern und Leserinnen an bestimmten Windungen und zu langen Abschweifungen finde ich interessant – das auszusprechen, darauf im Voraus zu reagieren. Auch das sind Motive aus der Literatur, die ich weiterführe. Es ist ja kein Zufall, dass in meinen Frankfurter Poetikvorlesungen Jean Paul im Mittelpunkt stand, der bekanntlich ständig seine Leser anspricht, der selbst in seinen Büchern auftritt. Oder ankündigt: Achtung Leser, jetzt kommen 10 Seiten, durch die musst du durch, dafür belohne ich dich danach mit einer spannenden Geschichte. Und dann sind die 10 Seiten viel spannender als die angekündigte Klimax, und das thematisiert er wieder. Also dieses Beiseitesprechen, das mag dem literarischen Bewusstsein bei uns in den letzten Jahrzehnten etwas verloren gegangen sein, doch es konstituiert letztlich die moderne Literatur.

Hatten Sie keine Angst beim Zitieren aus Prousts „Recherche“ oder dem Nacherzählen von Balzacs „Erinnerungen zweier junger Ehefrauen“, dass sie nur auf den Schultern von Giganten stehen, Sie daran schwer herankommen mit ihrem Roman über die Liebe, dem Nachdenken über eine 23 Jahre währende Ehe?

Darum geht es doch. Kommen wir an diese dort geschilderte Liebe überhaupt heran? In unserem Leben? Natürlich ist Proust ein Gigant, aber dieses Gefälle gegenüber unserer Gegenwart und damit auch dem Leben, das ich in dem Roman schildere, ist ja auch ein objektives.

Aber erscheinen uns unsere eigenen Liebesirrungen und -wirrungen nicht doch immer als die größten?

Aber vor einem Regal, in dem Proust, Tolstoi, Shakespeare stehen, sehen unsere Irrungen für den Betrachter recht klein aus, egal wie groß wir selbst sie naturgemäß empfinden – finden Sie nicht?

Die Handlung ihres Romans läuft auf zwei Schienen: Der Erzähler, der sich in dieser Nacht bei seiner Jugendliebe noch etwas ausrechnet – und eben jene Jutta, die erläutert, wie man die Liebe in einer Ehe mit drei Kindern zu erhalten versucht, größtenteils vergeblich.

Soll ich das kommentieren? Das Komische an dieser Interviewsituation ist, dass ich mein Buch erklären soll. Dabei würde mich viel mehr interessieren, was Sie als Leser dazu sagen.

Ich habe die essayistischen Passagen gern gelesen, die Proust-Zitate, manche erkannte ich aus der eigenen Proust-Lektüre wieder, das war ein willentlicher Erinnerungsanstoß. Und das Hauptthema, die Liebe in einer jahrzehntelangen Paarbeziehung – wer fragt sich nicht, wie man so etwas frisch hält?. Nur fremdele ich bisweilen mit Jutta und ihrem Background als Lokalpolitikerin, das halte ich für herbeigesucht.

Das ist natürlich schade für mich. Andererseits freue ich mich, dass Sie das Hauptthema des Romans interessiert und ich Sie zudem zur Proust-Wiederlektüre animiert habe – dann war die Lektüre nicht umsonst. Wie seltsam ist es doch, dass diese große Literatur kaum noch eine Rolle spielt, dass die Gegenwartsliteratur kaum noch vor der Folie der älteren literarischen Tradition rezipiert wird.

Die Parallelen zu Ihrem Ich-Erzähler sind offensichtlich, auch die Abweichungen, wenn man Sie nur ein wenig kennt – aber wie viel steckt von Ihnen in Jutta?

Ein Autor steckt in allen Figuren drin, nicht nur im Erzähler – aber wie genau, das wüsste er selbst gern.

Aber warum spricht Jutta ihren alten Freund, den Schriftsteller, auf den Terrorismus an, empfiehlt ihm Houellebecq, thematisiert sie die Flüchtlingsproblematik?

Sie ist Bürgermeisterin, also in der Politik, sie sieht, dass seine Herkunft keine rein deutsche ist. Beide sind eine Nacht zusammen, man kann ziemlich genau datieren, wann. Und dann sollen sie die Pariser Terroranschläge, die kurz vorher stattfanden, nicht einmal ansprechen? Das fände ich nicht wahrscheinlich.

Aber geht es in so einem Fall um Realismus? Müssen die beiden politisieren, wo sie sich nach so langer Zeit wiedersehen und sie ihm von ihrer Ehe erzählt?

Ja, müssen sie. Schließlich nimmt mein Roman sehr explizit Prousts „Recherche“ auf, darin spielen der Antisemitismus, Marcels jüdischer Freund Albert Bloch und die Dreyfuß-Affäre eine tragende Rolle. Hätte ich die Reflektion darüber ausgerechnet heute ausblenden können? Man kann heute Entsprechungen sehen, man kann sie nicht sehen – Jutta und der Erzähler streiten sich ja darüber.

Nervt es Sie, wie Ihren Ich-Erzähler, als gelungenes Beispiel für Integration, als Terrorismusexperte, als intimer Kenner des Islam eingeladen zu werden und nicht nur als Roman-Autor. Porträtieren Sie sich in bestimmten Aussagen ein wenig selbst?

Ich äußere mich ja zu solchen Dingen. Mein Erzähler macht das nicht so gern. Dass ein Schriftsteller wie der in meinem Buch, der Vorfahren aus einem anderen Land hat, auf seine Herkunft angesprochen wird, das ist unvermeidlich. Ihn nervt das aber vielleicht mehr als mich.

Wenn Sie nun auf Lesetour gehen, gibt es dann nicht auch Fragen, die nichts mit Proust oder der Liebe zu tun haben, sondern, beispielsweise, zum Aufkommen der AfD?

Möglich, aber es geschieht erfahrungsgemäß selten, und wenn, ist es auch nicht schlimm. Wenn ich keine Ahnung von etwas habe, kann ich das ja auch sagen.

Gibt es bei Ihnen nicht hin und wieder eine Sehnsucht, einfach nur Schriftsteller zu sein? Der einmal ausschließlich über die Liebe schreibt – und dann nicht die Rolle des öffentlichen Intellektuellen, des Mahners und Warners ausfüllen will?

Nein, diese Sehnsucht gibt es nicht. Wenn ich ein Buch veröffentlicht habe, äußere ich mich sicher mehr öffentlich. Während ich es schreibe, so gut wie nicht. Oder wenn es fertig ist und noch nicht veröffentlicht, bin ich oft unterwegs. Und wie oft halte ich Reden? Vielleicht einmal im Jahr.

Aber die haben große Wirkung.

Ich gebe mir Mühe bei den Reden, natürlich. Ich bin ja nicht Thomas Bernhard, der mochte das nicht. Bernhards Reden sind großartig, aber wenn er sein Publikum beschimpft hat, war das damals vielleicht nicht ganz so lustig wie jetzt.

Ihre Reden vermitteln häufig den Eindruck, hier könne jemand unserem Land eine Lektion erteilen, neue Horizonte aufzeigen. Sie sind auch ein Hoffnungsträger.

Was soll ich dazu sagen?

Zum Beispiel, dass Sie sich unter Druck gesetzt fühlen?

Nein, wenn ich mich danach richte, was andere von mir erwarten, würde ich mit Sicherheit an Kraft einbüßen. Ich kann nur bei mir selbst sein, bei dem, was mir in einem bestimmten Moment gerade am wichtigsten ist. Ich versuche schon, die Inflation eigener Worte zu vermeiden.

Am Ende Ihres Roman wirkt es, als würden Jutta und ihr Erzähler nicht mehr weiter wissen. Kennt die Liebe keine Conclusio?

Ja, das Buch hört einfach auf, es ist kein Fernsehfilm, womöglich mit Happyend. Das mit der Liebe, das bleibt immer offen, die lässt sich nicht resümieren.

Sollte ein Kunstwerk wie Ihr Roman nicht auch etwas Abgeschlossenes haben?

Von einem Kunstwerk erwarte ich geradezu, dass es den Abschweifungen und Zufälligkeiten Platz gibt. Das bedingt doch die Form des Romans: die Form zu sprengen, Dinge hineinzubringen, die vorgeblich nicht hereingehören. Was ist das für eine Regel, dass alles zu einem schlüssigen Ende gebracht werden muss, dass jeder Motivspur gefolgt wird! Ich schaue da gerade hinter Ihnen ins Regal und sehe die Bücher von Heimito von Doderer, da gibt es so viele Geschichten, die aufploppen, und dann werden die gar nicht weitererzählt. Obwohl das romantheoretisch eine Katastrophe ist.

Nochmal zur Liebe: Ist diese nur in der Erinnerung, als Bild, in der Vorstellung möglich?

Es gibt schon die reale Verliebtheit. Liebe ist vielleicht genau das, was wir oft gar nicht als Liebe bezeichnen. Sie gibt es nicht isoliert, sie findet sich in vielen Dingen, in vielen Beziehungen, ohne dass man das als Liebe bezeichnen würde. Es gibt nicht den einen Moment, den einen Ort, das eine Gefühl in der Liebe. Eher übersehen wir die Liebe in all dem, was wir eben nicht für Liebe halten.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

Navid Kermani: Sozusagen Paris. Roman Hanser, München 2016. 284 Seiten, 22 €. Am Montag, 26.9., liest Kermani in der Schaubühne am Lehniner Platz, 20 Uhr. Die Veranstaltung ist ausverkauft, aber es könnte noch Restkarten an der Abendkasse geben.

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