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Der israelische Schriftsteller Amos Oz
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Amos Oz: Neuer Roman "Judas": Liebe, Einsamkeit, Finsternis

Wer den Mut hat, sich zu verändern, ist kein Verräter: Amos Oz’ religionshistorischer und den ewigen Nahost-Konflikt in den Blick nehmender Roman „Judas“.

Seinen Großonkel Joseph Klausner erwähnt Amos Oz einmal auch namentlich. „Nach Ansicht von Joseph Klausner“, sagt eine der Hauptfiguren von Oz’ neuen Roman „Judas“, „war Jesus von Nazareth überhaupt kein Christ, sondern ein Jude. Er wurde als Jude geboren und starb als Jude, und es ist ihm nie in den Sinn gekommen, eine neue Religion zu gründen.“ Klausner, ein aus Litauen stammender Religions- und Literaturwissenschaftler, war mit seinen Büchern „Jesus von Nazareth“ und später „Von Jesus zu Paulus“ Anfang der zwanziger Jahre berühmt geworden, hatte sich wegen der Darstellung von Jesus als jüdischer Moralist und Reformer allerdings auch eine Menge Anfeindungen von jüdischer wie christlicher Seite gefallen lassen müssen.

Amos Oz hat Klausners Ansichten und Bücher quasi als Blaupause unter seinen Roman gelegt: unter eine Geschichte, die sich im Winter 1959/1960 in Jerusalem zuträgt und in der es, so Oz zu Beginn etwas märchenonkelhaft, „Irrtum und Lust“ gebe, „enttäuschte Liebe“ und „die Frage nach Religiösität, die hier unbeantwortet bleibt“. Held ist der 25-jährige Schmuel Asch, „ein Sozialist und Asthmatiker, schnell zu begeistern und leicht zu enttäuschen“, der im Begriff steht, sein Studium zu schmeißen. Denn der Vater hat Konkurs anmelden müssen, die Freundin heiratet einen anderen. Mit der Forscherei ist es unter diesen Umständen nicht weit her, mit Forschungen über Jesus aus jüdischer Perspektive und als Symbol von Verfolgung und Unterdrückung; und über Judas Ischariot, der den Verrat an Jesus nicht begangen und auch gar nicht nötig hatte.

Oz erzählt die Geschichte eines vermeintlichen Verrats - und parallel dazu die von Jesus und Judas Ischariot

Asch landet dann, er muss ja seinen Lebensunterhalt finanzieren, bei einem alten, gebrechlichen, geistig aber wachen Mann, Gerschom Wald, und dessen Schwiegertochter Atalja Abrabanel. Als „sensibler Gesprächspartner mit historischem Wissen“ wird er eingestelllt, fünf Stunden am Tag soll er sich mit Wald unterhalten. Natürlich will der aufmerksame, gelehrte Wald etwas über seine Jesus-Studien wissen; im Gegenzug erfährt Asch schon bald mehr über die Lebensgeschichte der Bewohner des düsteren, am Ende einer Straße gelegenen Hauses. Eine Hauptrolle darin spielen die Staatsgründung Israels und die Opfer, die dafür zu leisten waren, und Oz blendet dabei den von Schmuel Asch (und Klausner) angezweifelten Verrat von Judas Ischariot in die junge Historie Israels über.

Wald ist Anhänger von Israels Staatsgründer Ben Gurion, hat aber seinen Sohn Micha im Krieg von 1948 verloren, den Ehemann von Atalja. Und deren Vater Schealtiel wiederum ist der Verräter in dieser zeitgenössischen Geschichte. Schealtiel Abrabanel, ein Politiker und Mitstreiter Ben Gurions, hielt Israels Staatsgründung für gefährlich, war mit vielen Arabern befreundet, zeigte Verständnis für deren Nöte und musste deshalb die Jewish Agency und die zionistische Weltorganisation verlassen. Gegenüber Wald sprach er im Fall einer Staatsgründung Israels „von einem ewigen blutigen Krieg zwischen Juden und Arabern“: „In diesem Krieg, prophezeite Schealtiel, würden die Juden nicht siegen. Selbst wenn ein Wunder geschähe und die Juden die Araber beim ersten, zweiten, dritten und auch vierten Mal schlagen könnten, letztendlich werde der Islam gewinnen. Es würde ein Krieg sein, der über Generationen anhalte, denn jeder jüdische Sieg würde die Angst der Araber vor den teuflischen Fähigkeiten der Juden und kreuzritterähnlichen Bestrebungen nur verdoppeln und verstärken.“Oz schlägt so einen Bogen in die Gegenwart seiner Heimat, deren politisches Gebaren stets auch von der Vergangenheit und der Religion bestimmt wird. „Judas“ ist dabei vor allem ein Thesen- und Ideenroman, der sich über die Unterhaltungen seiner Protagonisten entfaltet. Die Liebe und die Lust sind mehr Beiwerk und klingen in der sich anbahnenden Beziehung zwischen Schmuel und Atalja an. Die aber ist von vornherein zum Scheitern verurteilt: Viel zu düster ist es in dem Haus in der Rav-Albas-Gasse 17; immer dunkel scheint auch das winterliche Jerusalem zu sein, in dem sich Schmuel tagsüber allein und nachts mit Atalja herumtreibt. Auch die Wunden der Bewohner des Hauses sind zu tief, ihre Einsamkeit zu groß. Und über allem schwebt der Verrat, von Schealtiel, von Judas, und Verrat und Einsamkeit bedingen ja einander.

"Judas" bildet die Summe des politischen Denkens von Amos Oz

Das Thema des Verrats, das „Judas“ in Form der religiösen Forschungsarbeit von Asch und in der Lebensgeschichte von Schealtiel Abrabanel behandelt, ist ein Lebensthema des Schriftstellers Amos Oz. Viele seiner Landsleute werfen auch ihm Verrat vor, da er Mitbegründer der Friedensbewegung „Peace Now“ ist, die Zwei-Staaten-Lösung bevorzugt und sich für Kompromisse zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt. Der Vorwurf begleitet Oz von Kind auf, wie er im November des vergangenen Jahres in Hamburg in seiner Dankesrede für den Siegfried-Lenz-Preis sagte. Weil er sich noch vor der Staatsgründung mit einem britischen Soldaten angefreundet hatte, der ihm als kleinem Jungen Englisch beibrachte und er diesem im Gegenzug ein wenig Hebräisch, fragten ihn viele seiner Freunde erbost: „Wie kannst du dich mit unseren Besatzern anfreunden?“ Und, so schlussfolgerte Oz damals in eigener Sache: „Manchmal ist der Verräter auch einfach jemand, der den Mut hat, sich zu verändern – in den Augen derer, die sich nicht verändern wollen, die Angst davor haben, die Veränderung hassen.“

Fast wortwörtlich findet man solche Äußerungen in diesem Roman wieder, mal bei Schmuel Asch, aber auch in den Paraphrasierungen der Reden von Schealtiel Abrabanell. So manchen Gedanken Abrabanells formulierte Oz zum Beispiel auch schon 1992 in seiner Friedenspreis-Dankesrede, als er Nationalstaaten als „schlechte, unzureichende Systeme“ bezeichnete: „Wir sollten eine vielstimmige Welt errichten und nicht eine voller Dissonanzen, voller selbstständiger und selbstsüchtiger Nationalstaaten.“

„Judas“ bildet so eine Art Summe des politischen Denkens von Amos Oz seit vielen Jahrzehnten. Gleichzeitig steckt es voller literarischer und sicher auch religionsgeschichtlicher Verweise, wie zum Beispiel auf S. Yizhars Roman „Die Tage des Ziklag“ über eine Gruppe junger israelischer Soldaten während des Unabhängigheitskrieges. Manchmal ist Oz’ Roman aber auch etwas redundant: Das Schicksal von Schealtiel Abrabanell wird mehrmals fast wortgleich dargestellt; auch die eingangs von Gershom Wald zitierten Joseph-Klausner-Ansichten finden sich wortwörtlich in der Mitte des Romans, dort von Schmuel Asch gegenüber Atalja geäußert. Und dass Schmuel gern gewürzte Gulaschsuppe in einem ungarischen Restaurant isst (mit ein oder zwei Scheiben Weißbrot) oder Atalja nach Veilchen duftet, erfährt man mehrmals. Es knarrt da bisweilen sehr im Romangefüge, und auch hat es den Anschein, als wolle „Judas“ nicht vom Fleck kommen, als implodiere die Situation im Haus, als sei Oz die religionshistorische und politische Programmatik wichtiger als seine Geschichte von Liebe, Einsamkeit und Finsternis. Kurzum: Als gäbe es wirklich weder Auswege noch Entwicklungen.

Für Israel und die Palästinenser trifft das sicher zu. Aber wenigstens nicht für Schmuel:  Ihm weist man die Tür des Hauses, er wird geradezu hinausgeworfen. Ein Glück für ihn – die Zukunft hat er, anders als seine zwei Schicksalsgenossen, noch vor sich. Licht muss es schließlich am Ende eines jeden Tunnels geben.

Amos Oz: Judas. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 332 Seiten., 21, 90 €.

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