"Stardust" an der Komischen Oper: Leuchten im Rohzustand
Zeitgenössischer Tanz: Das New Yorker Ballett-Ensemble Complexions bringt mit „Stardust“ Bach und Bowie an die Komische Oper.
Die Brooklyn und Manhattan Bridge sind mehr als Brücken. Mit ihren Zu- und Abfahrten, den Schatten, die sie werfen, mit ihrer schieren Präsenz als Bauwerke prägen sie auch einen ganzen Stadtteil am East River, der passenderweise den Namen Dumbo („Down Under the Manhattan Bridge Overpass“) trägt. Wer hier spazieren geht, hat die Wolkenkratzer am westlichen Flussufer ständig im Blick und befindet sich doch in einer anderen Welt – in der man sich zum Beispiel noch Studiomieten leisten kann.
Wir besuchen eine Probe der Complexions Contemporary Ballet Company, die ab dem Dienstag eine Woche lang mit „Stardust – from Bach to Bowie“ in der Komischen Oper auftreten wird. Lachen, Händeschütteln zur Begrüßung, den Kaffee gibt’s aus der Thermoskanne.
Bach und Bowie? Der Anfangsbuchstabe scheint so ziemlich das Einzige zu sein, was die beiden verbindet. In der Show kommen sie trotzdem zusammen, weil Complexions-Gründer Dwight Rhoden beide Musiker so schätzt. Eigentlich sind es sogar drei, Bach-Sohn Carl Philipp Emmanuel gesellt sich dazu, mit einem Satz aus dem Cellokonzert A-Dur und dem Chor aus dem „Magnificat anima mea Dominum“. Vom Vater erklingt unter anderem das Adagio aus dem Klavierkonzert d-Moll BWV 974 oder die Transkription nach A-Dur von Vivaldis Konzert in F-Dur (BWV 978). „Bachs Musik ist sehr tanzbar, sie kommt physischer Bewegung sehr entgegen“, erklärt Rhoden. Und während der Generalbass durch die eine Tänzergruppe regelrecht hindurch zu strömen scheint, setzt die andere die melodischen Linien in reine Körperlichkeit um, hält mal die Spannung, tanzt mal doppelt so schnell.
Psychedelisches Werden und Vergehen
Trotzdem ist der barocke Teil der Show höchstens ein Präludium. Der Abend gehört David Bowie, und jetzt dreht das Ensemble im Probenstudio von Brooklyn richtig auf. „Ground Control to Major Tom“: langsam, fast psychedelisch bewegen sich die Körper, ein organisches Werden und Vergehen, das in immer raschere, detaillierte, überraschende Movements übergeht. 40 Jahre Bowie ziehen wie ein Panoptikum vorüber, „Warszawa“ vom Album „Low“, „1984“ von „Diamond Dogs“, „Heroes“ – hier in der von Peter Gabriel gesungenen Version – bis zum Vermächtnis, „Lazarus“ vom 2016er-Album „Blackstar“.
Es gibt keinen roten Faden, die Tänzer und Tänzerinnen erzählen keine kohärente Geschichte. Auch Bowies Leben war ja eine Abfolge von Fiktionen und Selbstentwürfen – Ziggy Stardust oder Nathan Adler. Dafür gestaltet die Truppe Miniaturszenen, findet einen Ausdruck für den Augenblick, den Wimpernschlag, lässt das Tänzerische scheinbar auch mal hinter sich. Dann lehnt sich jemand erschöpft an eine Schulter, Momente von Zärtlichkeit, bevor die Energie metamorphosiert in etwas völlig anderes. In Berlin kommen Licht und Kostüme dazu, bei der Probe fehlen sie - was die Bewegungen noch stärker hervorhebt, die Show quasi im Rohzustand leuchten lässt.
Rhodens choreografischer Einfallsreichtum ist unerschöpflich. Als „Liebesbrief“ will er den Abend verstanden wissen, Feier eines Genies und Hommage an einen Musiker, der ihm sehr viel bedeutet: „He just kept on going and going.“ Rhoden betont die oft bemühte Metapher vom „Chamäleon des Rock“, obwohl er natürlich weiß, dass sie nicht stimmt: ein Chamäleon passt sich einer Umgebung an, was Bowie gerade nicht getan hat. Vielmehr könnte man sagen, dass er, wie Diedrich Diederichsen schon 1983 schrieb, „die Kulturzusammenhänge an der Nase herumführt und dabei einen Zustand erreicht hat, der Hochstapelei zum Genre erhebt“. Dennoch oder gerade deshalb kann man natürlich auf die Musik eines Künstlers, der eines seiner Alben „Let’s Dance“ genannt hat, wunderbar einen Tanzabend aufbauen. Bowie hat es ja selbst getan, hat mit Lindsay Kemp und Édouard Lock zusammengearbeitet. Zu den ungezählten Künstlerinnen, Künstlern, Religionen, Techniken und Traditionen, von denen er sich hat inspirieren lassen, gehörte auch das Tanztheater von Pina Bausch, für seine „Glass Spider Tour“ von 1987.
Vielfalt der Körper
Complexions feiert mit „Stardust“ zugleich sein 25-jähriges Bestehen. Rhoden hat die Company 1994 mit Desmond Richardson in New York gegründet, beide haben sich beim Alvin Ailey American Dance Theater kennengelernt. Bis zu 38 Wochen im Jahr tanzt die Truppe zusammen, die Mitglieder kommen aus den USA, Kanada, Australien und Japan. „Wir suchen nicht den einen Typ“, erklärt Ko-Direktor Richardson, „uns geht es um Vielfalt: der Körper, der Körpergrößen, der Ethnizitäten.“
Das ist zu spüren, auch in der Probe: Da tanzt kein klassisches Ensemble, mit traditioneller Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Sondern eine Gemeinschaft aus sehr markanten Individuen, vom eher kleinen, flinken Tänzer Simone Plant bis zur hochgewachsenen, das Geschehen leuchtturmartig überblickenden Jillian Davis . „Zeitgenössisches Tanztheater kann man heute an jedem Haus finden, das etwas auf sich hält“, meint Plant, „Complexions hat diese Entwicklung mit angestoßen.“ Wollen sie nicht alle mal am Broadway tanzen? „Wir würden dort natürlich besser bezahlt werden“, erklärt er, „aber eben immer dasselbe machen.“ Darauf hat man keine Lust. Sollte es doch eine Gemeinsamkeit von Bach und Bowie geben, dann diese.
Vom 9. bis 14. Juli., Komische Oper