Der RIAS Kammerchor im Radialsystem: Lasterhaft sind die Menschen
Alfred Schnittkes "Zwölf Bußverse" sind nicht nur schwer zu singen, sondern auch zu hören. Hans-Christoph Rademann und der RIAS Kammerchor gestalten das Werk aber rauschhaft.
Warm ist es im Radialsystem und sehr voll. Die musikalische Nebenberlinale „Chor@Berlin“ geht zu Ende, und man sitze und staune: Es gibt ja doch ein Chorpublikum in Berlin! Begeisterungsfähig, konzentriert und auch ein wenig leidensfähig. Denn das Abschlusskonzert unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann, für den es einer der letzten Auftritte als Chefdirigent des RIAS Kammerchores ist, verlangt den Zuhörern einiges ab an Hinwendung, Abstraktionsvermögen und Einfühlung. Alfred Schnittkes „Zwölf Bußverse“ sind ja nicht nur deswegen alles andere als ein Standardprogramm, weil sie so irrsinnig schwer zu singen und adäquat nur von einem Profiensemble zu bewältigen sind, sondern weil sie sich wie eigentlich alle Chorwerke des 1998 verstorbenen Deutschrussen nicht auf billig zu habende Oh-Ah- Effekte verlassen, die viele moderne Kompositionen so populär machen.
Noch zu tiefsten, wenn auch bröckelnden Sowjetzeiten vertonte Schnittke die altrussischen Bußtexte aus dem 16. Jahrhundert, die zum Jubiläum der 1000-jährigen Christianisierung Russlands 1988 uraufgeführt wurden – immerhin vom Staatlichen Kammerchor in Moskau. An der beeindruckend polystilistischen Meisterschaft kam niemand vorbei: Die Intensität und Klangfülle der Verse, in ihrer differenzierten Ausdeutung durchaus konträr zum Text, rührt an immer wieder heutige Themen: Doppelmoral, Heuchelei, Gier. Die lasterhaften Menschen finden im vollen Bewusstsein ihrer Untugenden eben nicht Trost in der Religion. Ein wahrhaft aktuelles Werk.
Selten übersteuerter Tonrausch
Es ist so anstrengend, dass Rademann zur Hälfte einige Minuten Sitzpause verordnet. Mit raumgreifend-anpeitschenden Gesten führt der Chorpapst, der kompromissloser und fordernder wirkt als früher, sein geradezu erschütternd sauber intoniertes Ensemble zu immer neuen Höhepunkten, verharrt diesmal nicht in ätherischer Klangverliebtheit, sondern treibt die Clusterverschiebungen, die Akkordketten, die merkwürdigen Glissandi zu einem Tonrausch, der nur ganz selten übersteuert wirkt. Die abrupten, vor allem dynamischen Wechsel vollzieht der RIAS Kammerchor mit bewundernswürdiger Perfektion, deren würdigste Anwälte die Chorsolisten sind (sensationell: Tenor Volker Arndt). Ein großer Abend, der lange nachwirkt.