Museen im Lockdown: Kunst im Kopf
Die Staatlichen Berliner Museen bieten jetzt Führungen per Telefon durch ihre Ausstellungen an, zum Beispiel zum belgischen Symbolismus.
Da ist sie, die breite Freitreppe vor der Alten Nationalgalerie, die in Richtung Schlossplatz und Dom ausgerichtet ist. Direkt davor das Reiterstandbild, mit dem Wilhelm I. die kulturellen Verdienste seines Bruders würdigt. Hier der Eingang zum Museum und dahinter, ein paar Treppen nach oben, die Beletage. Hier würde normalerweise Édouard Manets prägendes Impressionismuswerk „Im Wintergarten“ hängen. Jetzt aber ist Jean Delvilles „Die Liebe der Seelen“ zu sehen. Oder besser: zu hören.
Man ist sofort mittendrin, wenn Kunsthistoriker Lutz Stöppler die Ausstellung „Dekadenz und dunkle Träume“ beschreibt. Stöppler sitzt irgendwo am Schreibtisch, die Besucherin im eigenen Zuhause, verbunden ist man per Telefon. Institutionen wie das Deutsche Historische Museum oder das Museum Barberini in Potsdam bieten schon eine Weile telefonische Ausstellungsführungen an.
Die Staatlichen Museen ziehen jetzt nach. Die Führungen durch die Gemäldegalerie, das Bode- Museum, die Friedrichswerdersche Kirche, den Hamburger Bahnhof, das Ägyptische Museum, die Antikensammlung und so manche Sonderausstellung sind für blinde, sehbeeinträchtigte und sehende Menschen gleichermaßen gedacht (Anmeldung: www.smb.museum/veranstaltungen, 5 €).
Mit der Sprachkraft eines Romanciers
Geht das, Meisterwerke der Kunst ausschließlich verbal zu vermitteln? Es ist, als würde eine fesselnde Geschichte vorgelesen oder ein Märchen erzählt werden. Man hört vom Körper des Mannes und der Frau, die vor blauem Hintergrund scheinbar von unten nach oben schweben, von den Silhouetten der beiden, die eine Herzform bilden.
Kunsthistoriker Stöppler bietet auch herkömmliche Führungen an. Am Telefon aber braucht er die Sprachkraft eines Romanciers, um die Synapsen im Gehirn anzuregen, sodass die Bilder vor dem inneren Auge entstehen. Stöppler konzentriert sich beim Telefonrundgang auf ganz wenige Gemälde. Von den etwa 80 Werken, die in der Ausstellung zum belgischen Symbolismus versammelt sind, wählt er vier aus, die er eingehend beschreibt und anhand derer er den morbiden Reiz des Symbolismus zwischen Thanatos und Eros erklärt.
Bestimmte Anhaltspunkt sind essenziell, vor allem, wenn man die Bilder nicht kennt: Ist es ein Quer- oder Hochformat? Wie sind die Figuren angeordnet, was ist markant? Welche Farben werden verwendet und was passiert an den Rändern? In Fernand Khnopffs breitem Querformat „Die Zärtlichkeit der Sphinx“ schmiegt sich ein Mann an den Kopf einer Sphinx, in dem Fall eine Gepardin mit dem Haupt einer Frau. Das Selbstporträt des belgischen Malers nutzt Stöppler dazu, das Spannungsfeld des Symbolismus zu erläutern.
Die Telefonführung erfordert Konzentration
Während die Motive oft auf klassische Mythen und sogar christliche Symbolik rekurrieren und die Maltechnik traditionell ist, sind die Bilder avantgardistisch, frech und emotional. Stöppler streift auch die Sammlungsgeschichte der Alten Nationalgalerie, erzählt, wie und wann es die französische Kunst überhaupt in dieses seit 1876 der deutschen Kunst gewidmete Haus schaffte und dass der französische Symbolismus in der Sammlung kaum vertreten ist.
Die Telefonführung erfordert Konzentration. Schweifen die Gedanken ab oder wird nebenbei am Handy gespielt, werden die inneren Bilder schnell vage, die geistige Verbindung bricht ab. Eine Stunde ist da genau die richtige Dauer.
Am Ende können die Zuhörerinnen und Zuhörer Fragen stellen. Man erfährt etwa, dass auch Stöppler, ein Experte für die Kunst des 19. Jahrhunderts, die ausgewählten Bilder teils rein aus dem Gedächtnis beschreibt. Andere hat er als Abbildungen vor sich auf dem Schreibtisch. Ein faszinierender Gedanke: Kunst, die sich von Vorstellung zu Vorstellung überträgt.
Um eine Telefonführung durchzuführen, muss die Ausstellung zwar einmal aufgebaut gewesen sein, man könnte den Hör-Rundgang aber auch noch anbieten, nachdem die Schau beendet worden ist. Gedankenkunst unterliegt ja keinem Nutzungsrecht. Oder doch?
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