Nachruf auf Gert Voss: Königsschausspieler, Schauspielerkönig
Gert Voss hatte so viele Facetten wie kaum je ein anderer Schauspieler. Und dabei spielte er immer um sein Leben. Der große Mann glich in seinem Inneren einem angesengten Schmetterling. Zum Tod eines Bühnenwunders.
Es war zum Ende des vergangenen Jahrhunderts eine seiner kuriosesten Erfahrungen. Eigentlich nur eine Anekdote im künstlerisch so wunderbar reichen Leben des Schauspielers Gert Voss. Aber bezeichnend. Voss hatte 1999 in der Fernsehproduktion „Balzac – Ein Leben voller Leidenschaft“ neben dem Titeldarsteller Gérard Depardieu den französischen Schriftsteller Victor Hugo gespielt, der das Schicksal des Großromanciers Balzac als dessen jüngerer Kollege erzählt. Ein mit illustren Akteuren aus etlichen Ländern besetztes Dreistundenepos, das man in der TV- und Filmbranche einen „Euro-Pudding“ nennt.
Gert Voss fand das Drehbuch: na ja. Als entdeckungslustiger Lebens- und Fantasiemensch war er jedoch neugierig auf Depardieu, Jeanne Moreau, Fanny Ardant, Virna Lisi und seine übrigen internationalen Partner, denn ganz frei von berufstypischer Eifersucht konnte er sich unerschöpflich für andere Schauspieler/innen begeistern und sie im persönlichen Gespräch auch aufs Genaueste beschreiben – und oft hinreißend nachahmen. Er hatte ja das Ohr und die Gabe für alle Zwischen- und Untertöne. In Texten und Figuren, die er mit seiner imposanten Physis haarscharf, hauchfein bis ins Ungeheure, ins Geisterhafte belebte. Jener „Balzac“ aber wurde auf Französisch gedreht, und Voss konnte kein Französisch. Also lernte er seine Rolle buchstäblich auswendig, Wort für Wort. Um aber auf seine Partner jeweils reagieren zu können, lernte er auch die Parts seiner Mitspieler und versuchte, sie sich in vielen Nuancen mit vorzustellen. Nun hatte Voss als Victor Hugo gleich am ersten Drehtag einen langen, ohne Schnitt gefilmten Auftritt, bei dem er mit dem italienischen Kollegen Sergio Rubini eine pompöse Treppe in dem von Balzac bewohnten Schloss im lebhaft nuancierten Wechselgespräch emporsteigen sollte. Oben auf der Schlossgalerie standen dazu Depardieu & Co., um zuzuschauen, was dieser ihnen persönlich noch unbekannte, weil selten in Filmen aufgetretene, von französischen und englischen Zeitungen nach Bühnengastspielen indes als „größter Theaterschauspieler Europas“ gefeierte deutsche Kollege wohl zu bieten habe.
Voss legte parlierend los, und der Italiener Rubini erwiderte temperamentvoll gestikulierend – freilich ohne französischen Text, nur einen romanischen Privatkauderwelsch mimend. Nach ein paar Stufen der langen Treppe hing so alles bereits in der Luft, aber Gert Voss erfand, perplex und geistesgegenwärtig zugleich, für sie beide etwas sinngemäß Drittes, riss den Italiener mit seiner Improvisation und Intuition einfach mit und legte einen wundersam perfekten Auftritt hin. Auf der Treppe oben angekommen, spendete die Galerie Szenenapplaus.
Ein Stück menschliche Komödie. Der Dichter Thomas Bernhard hatte 1986 für die Schauspielerinnen Ilse Ritte, Kirsten Dene und ihren Ensemblekollegen Gert Voss eigens die familiäre Tragikomödie „Ritter, Dene, Voss“ geschrieben: eine der Triumphproduktionen des Theaterdirektors Claus Peymann, der damals mit seinen Stars gerade von Bochum ans Wiener Burgtheater wechselte. Keiner, der Voss und „Voss“ in der Rolle des aus dem Irrenhaus ins Elternhaus gewechselten tyrannisch-kindlichen Philosophenbruders im Liebeswürgegriff der beiden Schwestern gesehen hat, wird das vergessen: Wie der vielfach preisgekrönte Gert Voss mit immer vollerem, gebäckverschlingendem Mund und geblähtem Hals das Wort „Brandteigkrapfen“ als Weltsehnsuchtswort mit grollenden „Rrrs“ herausschleuderte, herausschrie und als viersilbige Welthammerformel, sich und alle Existenz zermalmend, auskotzte.
Die Aufführung wurde 20 Jahre später in der Originalbesetzung nochmals in Wien und im Berliner Ensemble gezeigt. Das war schönstes Theatermuseum, bis Voss auftrat und die Szene mit neuem ungeheurem Leben füllte und den Brandteigkrapfen zur Madeleine einer plötzlich rücklaufenden, wiedergefundenen Zeit machte. Und dann nochmals eine Hommage an Thomas Bernhard und an den Beruf des Schauspielers: 2011 wäre der österreichische Schriftsteller 80 Jahre alt geworden, und Claus Peymann inszenierte mit Gert Voss Bernhards Monodrama „Einfach kompliziert“. Voss spielte einen alten, in der letzten Kammer seiner Erinnerungen sterbenden Schauspielkünstler und konnte sich in eine ihn wärmende schäbigen Wolldecke noch hüllen wie in einen shakespeareschen Königsmantel. Abgedankt, aber ein Königsschauspieler, ein Schauspielerkönig für immer.
Gert Voss hatte sich auf weitere Filmrollen und eine späte neue Karriere gefreut.
Es sind das Bruchstücke nur aus einem kaum fassbaren Ganzen und doch noch Unvollendeten, wenn ich an Gert Voss denke, der eben noch da war, der aufregendste, anregendste Schauspieler einer Generation. Mit erst 72 Jahren ist er am Sonntagnachmittag in Wien in den Armen seiner Frau Ursula Voss gestorben. Beide waren Jahrzehnte in einer tagtäglich gelebten, nie getrennten symbiotischen Liebe verbunden, jeden Abend war Uschi Voss im Theater, wenn Gert spielte, war seine Muse, Dramaturgin, Beraterin. Wir kannten uns lange, waren Freunde, Gert Voss war ein ungemein herzlicher Mensch, der die Vermutung, dass gerade im Showbusiness oft ein bemerkenswerter Widerspruch existiert zwischen Talent und Charakter, glänzend widerlegte.
Der ihm nächste Regisseur war darum George Tabori, dem es in aller Kunst immer ums Leben ging, also um Menschen, und nicht um L’art pour l’art. Voss freilich „menschelte“ nie auf der Bühne und mengte nichts Privates, Meinungs- oder Botschaftshaftes in seine Rollen. Diese heute auf vielen Bühnen beliebte Tour wirkte ihm zu billig. Inhalt brauchte Form, und für jede Figur erfand er einen ganz eigenen Umriss. Als kadettenhaften Zögling der Hölle, als ein Kind, das alle Welt wie sein Spielzeug zerbricht, gab er so zu Peymanns Wiener Einstand 1986 Shakespeares Richard III., mit einem aasigen Charme, wie ihn seit Gustaf Gründgens’ Mephisto keiner mehr gezeigt hatte. Fabelhaft 1990 auch sein abgründiger Othello in Taboris Wiener Inszenierung, mit tiefer gelegter, guttural sonorer Stimme und geschmeidigem Panthergang: ein Admiral als magisch und menschlich gebranntmarkter Außenseiter, ein verführter, liebender Illusionist, der seiner Liebe das eigene Grab gräbt. Oder fast zeitgleich metallisch klar, sarkastisch souverän sein Wiener Shylock im „Kaufmann von Venedig“ (Regie Peter Zadek): der Jude ein Banker, der nicht aus dem Ghetto, sondern von der Wallstreet kam, ein assimiliertes Täteropfer. Wieder kühn und human.
Geboren wurde Gert Voss in China
Seine eigene Lebensreise begann 1941 in Schanghai, wo sein Vater als Kaufmann arbeitete. Erst 1947 kam Voss auf einem amerikanischen Kriegsschiff nach Deutschland und war unterwegs, unterm ozeanischen Sternenhimmel im nächtlichen Oberdeck-Freilichtkino, erstmals den Suggestionen der Schauspielerei erlegen. Nach einem abgebrochenen Philologiestudium in Tübingen und München nahm er Privatunterricht, wechselte den Geburtsvornamen Peter in Gert („Sie wollen doch nicht mit Peter Voss, dem Millionendieb, verwechselt werden!“) und geriet Anfang der 70er Jahre nach ein paar Stationen in der Provinz ins Stuttgarter, später Bochumer und Wiener Peymann-Ensemble, spielte zudem in München, Hamburg und Berlin. Hier an der Schaubühne und im Berliner Ensemble. Doch auch nach Peymanns Wechsel 1999 nach Berlin blieb Wien seine Theaterheimat.
Seine letzte Rolle war dort vor gut einem Jahr der Orgon in Molières „Tartuffe“, inszeniert von Luc Bondy. Trotz Mitspielern wie Joachim Meyerhoff in der Titelrolle und Edith Clever oder Johanna Wokalek hieß das Stück eigentlich „Orgon“. Gert Voss als Patron des Hauses, in das der Schwindler Tartuffe einbricht, war noch in der Gebrochenheit monumental. Ein gespenstischer Melancholiker. Wer ihn näher kannte, sah freilich auch, dass Voss triumphal, aber aschfahl spielte. Er hatte seit Jahren eine komplizierte Blutkrankheit, zuletzt vertrug er die Abwehrmittel nicht mehr, es brach ihm das Herz.
Demnächst wird die Berliner Akademie der Künste einen Text-Bildband über diesen großen Schauspieler seiner Zeit vorlegen, ediert von Ursula Voss. Kurz vor seinem Tod hat Gert Voss wohl noch den ersten Andruck gesehen. Und im Herbst wird man ihn nochmal im Kino sehen. Im „Labyrinth des Schweigens“ von Giulio Ricciarelli verkörpert er den früheren hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der einst Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und den Tipp an den israelischen Mossad weitergegeben hatte – weil die deutschen Behörden den Judenmörder nicht wollten. Voss spielt darin einmal mehr einen ungebrochen Gebrochenen, den zurückgekehrten Emigranten, der gegen viele Widerstände dann doch den Frankfurter Auschwitz-Prozess ermöglicht hat.
Inzwischen hatte sich Gert Voss schon auf weitere Filmrollen und eine späte neue Karriere gefreut, er hatte im Frühjahr in Wien gerade die Dreharbeiten zu dem ORF-Mehrteiler „Altes Geld“ von David Schalko begonnen, war nach monatelanger Krankheit und Bühnenabstinenz wieder voller Pläne und Hoffnungen. Er hat für seinen Beruf gebrannt, hatte oft in einer Saison gleich mehrere Riesenrollen von Shakespeare, Bernhard, Tabori, Beckett nebeneinander verkörpert und Abend für Abend ein brillantes Feuerwerk gezündet, das auch seine Mitspieler erleuchtete. So war er keine egomane Rampensau, sondern der Star für alle, die mit ihm glänzen sollten.
Aber es war ein Raubbau wohl auch an seiner Gesundheit, der große statiöse Mann glich im Inneren einem angesengten Schmetterling. Einer, der das Schwere leicht machen konnte – im Theater das Schwerste überhaupt, wie Brecht befand. Einer der so viele Farben hatte, brennend, tanzend, leuchtend, lachend. Dabei hat er ums Leben gespielt. Heinrich Böll nannte alle große Kunst einmal: untröstlich. Aber nicht trostlos. Nach den Toden von Thomas Holtzmann, Rolf Boysen, Peter Fitz, Otto Sander nun wieder solch ein Verlust. Die Szene wirkt voll noch immer, und wird doch leerer. Untröstlich.
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