Junge Singer-Songwriter beleben ihr Genre: Komm an meine Saite
Spannender als Rock, entspannter als Dance-Pop: Junge Singer-Songwriter wie James Bay, Courtney Barnett und Laura Marling bringen ihr Genre zum Blühen.
Vollkommene Verzückung. Vor allem bei den Frauen. Eine Brünette presst sich selig die Hände aufs Herz, die meisten anderen lächeln ergriffen und schauen gebannt zur Bühne des Kreuzberger Kellerclubs. Dort steht Anfang des Jahres – zum ersten Mal in Berlin – der 24-jährige Brite James Bay. Karohemd, enge schwarze Jeans, lange braune Haare unter dem Hut. Er sieht fast ein bisschen zu gut aus, wie ein Singer-Songwriter aus dem Modelkatalog. Doch das tritt ganz schnell in den Hintergrund, sobald er zu singen beginnt und seine rote Halbakustikgitarre spielt – hier liegt der Verzückungsgrund.
Bay singt mit einem sehnsuchtsvollen Drängen in der Stimme, dem man sich schwer entziehen kann. Bei der melancholischen Ballade „Let Go“ begleitet ihn schon bald ein vielstimmiger Publikumschor genau wie bei „Hold Back The River“, seinem bisher besten Stück, dessen Hitqualitäten schon beim ersten Hören unbestreitbar sind. Eine von Gitarre und Stimme parallel vorgetragene, tastende Aufwärtsbewegung mündet in einen schnellen hymnischen Refrain, den man sich ohne Weiteres in einem Fußballstadion vorstellen kann.
Auch sonst ist das Pop-Potenzial seiner Songs immens, was viel dazu beigetragen haben dürfte, dass James Bay in Großbritannien bereits eine beachtliche Karriere gelungen ist. Noch vor einem Jahr arbeitete er in den Pubs seiner Heimatstadt Hitchin nördlich von London und trat in kleinen Läden auf. Inzwischen füllt er große Säle, hat den Brit Critics Award gewonnen und bringt am Freitag sein Debütalbum „Chaos And The Calm“ (Universal) heraus. Es ist absehbar, dass er damit auch international erfolgreich sein wird. Nicht zuletzt, weil sein Sound recht nah an der Linie seines gleichalten Kollegen Ed Sheeran liegt, momentan der britische Top-Singer-Songwriter.
Die Talente von der Insel
Die Insel scheint ohnehin mindestens ein großes Songwriter-Talent pro Jahr zu produzieren. Das Spektrum reichte in jüngerer Zeit vom Billy-Bragg-beeinflussten Jamie T über die folkorientierten Laura Marling und Michael Kiwanuka bis zum retrorockigen Jake Bugg. Nicht zu vergessen Adele, die nach ihren akustischen Anfängen in die Großpop-Liga aufgestiegen ist.
Die aktuelle Stärke der Singer-Songwriter-Zunft spiegelt sich in den UK-Jahrescharts von 2014: Die ersten Plätze belegten mit Ed Sheeran, Sam Smith, George Ezra und Paolo Nutini vier junge Musiker, die alle mehr oder weniger dem Genre zuzurechnen sind. Erst auf Platz fünf kommt mit Coldplay eine Rockband. Auch das ist symptomatisch: Rockgruppen, die im Mainstream eine Rolle spielen, sind alle älter. In den deutschen Jahrescharts sah man das an den hohen Platzierungen von AC/DC und Pink Floyd.
Strokes, Bloc Party, Arctic Monkeys - davon ist wenig geblieben
Junge Bands haben zuletzt vor zehn Jahren für kollektive Aufregung gesorgt. Gruppen wie die Strokes, Maxïmo Park, Franz Ferdinand, Arctic Monkeys oder Bloc Party sorgten damals für ein mitreißendes Rockrevival. Geblieben ist davon wenig. Selbst wenn die Bands noch existieren, operieren sie heute – mit Ausnahme der Kings of Leon – am Rande der Bedeutungslosigkeit. Nachgekommen ist ebenfalls nicht viel: Palma Violets? The Vaccines? Indie-Rock für verzweifelte Redakteure des „New Musical Express“. Haim vielleicht – der Idee von einer aufregenden, neuen Rockband kam das Schwesterntrio zuletzt noch am nächsten.
In einer von Dancepop, Hip-Hop und R’n’B dominierten Szenerie scheinen die jungen weißen Männerquartette mit E-Gitarren ausgedient zu haben. Junge, ebenfalls meist weiße Menschen mit Akustikgitarren halten sich hingegen wacker – und machen derzeit die spannendere Musik. Vielleicht kann man sie als eine Art authentische Antithese zu dem effektbeladenen High-Energy-Geballer von David Guetta, Katy Perry & Co. betrachten. Etwas Zartes, Intimes zur Entspannung von Partybeschallung und Alltagsstress.
Courtney Barnett und Laura Marling bringen frischen Wind ins Singer-Songwriter-Genre.
Eine Paradebeispiel für dieses Gegenpol-Prinzip hat kürzlich der schwedische Songwriter und Junip-Frontmann José Gonzales mit seinem zweiten Soloalbum „Ventiles & Claws“ (Peacefrog) veröffentlicht. Mittels feinem Nylonsaiten- Spiel und sanftem Gesang kreiert er einen kuscheligen Wohlfühlsound für die Chill- Out-Zone Wohnzimmer.
Bluesiger und bodenständiger geht es beim 22-jährigen Münchner Jesper Munk zu, der mit seinem zweiten Album „Claim“ (Warner) erneut zeigt, dass er momentan das größte deutsche Singer-Songwriter-Talent ist. Seine E-Gitarre heult mit seiner Stimme um die Wette, die klingt als gehöre sie einem 55-jährigen schicksalsgebeutelten Whiskytrinker aus den Südstaaten. Das unter anderem von Jon Spencer produzierte Album beschwört nicht nur dessen Blues Explosion, sondern auch Jack White und die Black Keys herauf.
Bemerkenswert: Courtney Barnett und Laura Marling
Zwei der bemerkenswertesten neuen Platten des Genres bringen am Freitag die Australierin Courtney Barnett und die Britin Laura Marling heraus. Letztere ist mit 25 Jahren schon ein Szene-Routinier. Ihr Debüt veröffentlichte sie 2008 und wurde sofort für den Mercury Prize nominiert. Ihr neues, fünftes Album „Short Movie“ (Virgin) ist ihr bisher abwechslungsreichstes und vielschichtigstes.Durch den gestiegenen E-Gitarren-Anteil hat ihr Folk-Pop eine rockigere Note bekommen. Ein paar mal, etwa in „False Hope“, klingt sie fast wie PJ Harvey zu Zeiten von „Stories From the City, Stories From the Sea“ und in „Gurdjieff’s Daughter“ scheint die Rhythmusgitarre von den Dire Straits inspiriert.
Wut und Unruhe durchziehen das Album, mit dem Marling ihre Zeit in Los Angeles verarbeitet. Dräuende Streicher, sägende und knacksende Sounds kontrastieren immer wieder die fein verwobenen Pickings und Melodielinien ihrer Gitarren. Es geht in „Short Movie“ sowohl um eine zerbrochene Liebe als auch um L.A., über das sie einmal singt „Living here is a game I don’t know how to play.“ In dem von Kontrabass und Akustikgitarre begleiteten „How Can I“, das leicht an Ani Di Franco erinnert, beschwört die Sängerin noch einmal die kalifornische Metropole und ihre Umgebung, denkt aber bereits über ihre Rückkehr Richtung Osten nach. Wie schwer es ihr trotz allem fällt, hört man in den mehrmals wiederholten Zeilen „How can I live without you?/ How can I live?“ Inzwischen wohnt sie wieder in England.
Courtney Barnett ist eine talentierte Sprachspielerin
Laura Marling steht in der klassischen Singer-Songwriter-Tradition der Sechziger, als sich das Genre, angeführt von Bob Dylan, etablierte. Musiker wie Leonard Cohen, Joni Mitchell, Van Morrison, Joan Armatrading oder Randy Newman schrieben und interpretierten ihre Stücke komplett selbst. Sie lösten sich von Traditionals, und die Texte wurden persönlicher. Der Singer-Songwriter als singender Poet wurde zum Ideal.
Eine aktuelle indie-rockige, aber komplett staubfreie Annäherung daran ist das äußerst hörenswerte Debütalbum der 27-jährigen Courtney Barnett. Schon der Titel „Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit“ (Marathon Artists) zeigt ihren lakonisch-spielerischen Umgang mit Sprache. Ihre Spezialität sind prägnante Beschreibungen kurzer Szenen und die Erforschung eigener Gemütszustände. Mal sprechsingend in wilden Reimketten zu Grunge-Gitarren vorgetragen („Pedestrian At Best“) oder als Assoziationskarrusell im Mid-Tempo- Schunkler „An Illustration of Loneliness (Sleepless In New York)“.
Barnetts schönstes Stück ist das mit einem betörenden Westcoast-Vibe ausgestattete „Depreston“, das eine Wohnungsbesichtigung beschreibt. Die Vorbesitzerin ist kürzlich gestorben: „And I see the hand rail in the shower/A collection of those canisters for coffee tea and flower/And a photo of a young man in a van in Vietnam“, singt Barnett. Und plötzlich steht man neben ihr in diesem Vorort von Melbourne und denkt mit ihr über die Tote nach, ist beiden ganz nah. Mit dem Haus wird es wohl nichts. Dann lieber noch eine Fahrt auf dem Reimekarussell.
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