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Auf der Flucht durch eine kolumbianische Favela. Will Smith mit Mary Elizabeth Winstead.
© Paramount/Ben Rothstein

„Gemini Man“ im Kino: Klonkrieger am Ende

Ang Lees „Gemini Man“ soll den Weg zur Zukunft des Kinos weisen. Doch der Science-Fiction-Film mit gleich zwei Will Smiths ist in 3-D ein Flop.

Eines der schönsten Bonmots der Filmgeschichte stammt aus Godards „Der kleine Soldat“ von 1960. Kino, sagt der männliche Protagonist, sei Wahrheit, 24 Bilder pro Sekunde. Meist wird der Satz dem Regisseur zugesprochen, als philosophischer Gedanke über das Wesen des Kinos. Tatsächlich ist es eine blöde Anmache, er will Anna Karina an die Wäsche. Die schminkt sich derweil gelangweilt.

Der Zusammenhang von Filmgeschwindigkeit und Realismus beschäftigt Kinopioniere seit über 100 Jahren. Das Auge ist ein träges Sinnesorgan. 24 Einzelbilder pro Sekunde reichen, um die menschliche Wahrnehmung zu überlisten, den „Flicker-Effekt“ zu eliminieren. So entsteht die Illusion einer fließenden Bewegung. Einigen war das nicht gut genug.

Douglas Trumbull, verantwortlich für die visuellen Effekte in „2001: Odyssee im Weltraum“ und „Blade Runner“, experimentierte schon in den Sechzigern mit erhöhten Bildfrequenzen, um die Immersion in eine glaubwürdige Illusion vollkommen zu machen. Je mehr Bilder pro Sekunde, so seine These, desto flüssiger die Bewegungsabläufe, desto schärfer auch die Bildwiedergabe.

60 Bilder pro Sekunde wären erforderlich. Aber weil die Technik damals noch teuer war und die Filmbranche per se wenig innovationsfreudig, verabschiedete sich Trumbull frustriert vom Kino und konzipierte stattdessen für den Freizeitpark der Universal Studios einen „Zurück in die Zukunft“-Simulator.

Ein erneuter Rückschritt

Godards Mythos von der „Wahrheit, 24 Bilder pro Sekunde“ ist längst ein Fall für die Geschichtsbücher. Der Mythos der „flüssigen Realität“, wie es die Filmhistorikerin Julie Turnock nennt, erlebt hingegen seit einigen Jahren ein Revival. Schuld ist die rasante Entwicklung in der digitalen Technologie, vor allem die Sorge der US-Filmindustrie um ihr schwindendes Publikum. Ang Lee gehört neben James Cameron zu den aggressivsten Verfechtern eines „digital turn“: 120 Bilder pro Sekunde sollen eine perfekte Kinoerfahrung ermöglichen, als befände sich die Zuschauerin mitten im Geschehen.

Lees erster Versuch vor drei Jahren fiel ernüchternd aus. „Die irre Heldentour des Billy Lynn“ über einen traumatisierten Irak-Heimkehrer erzürnte die US-Kritik, vom „Tod des Kinos“ war die Rede. Andere erinnerten die hochaufgelösten 3-D-Bilder mit ihrer hyperrealen Detailschärfe an Sportübertragungen auf dem heimischen Flachbildschirm. An den Kinokassen floppte das Experiment. Der deutsche Verleih brachte den Film nur als 2-D-Version mit normaler Bildfrequenz in die Kinos. An den dramaturgischen Schwächen änderte das nichts.

„Gemini Man“ mit gleich zwei Will Smiths, dem echten 51-jährigen Star und seinem 27 Jahre jüngeren, digital rekonstruierten Alter Ego, ist Lees zweiter Versuch, die Limitierungen der Technik zu überwinden. Doch der Film erweist sich als erneuter Rückschritt auf der Suche nach der „Zukunft des Kinos“, wie sie die 3-D-Verfechter in der Filmbranche fordern – im Hinblick auf den Boom der Streamingdienste mit wachsender Panik.

Das Kino imitiert Videospiele

Hollywood arbeitet seit einigen Jahren daran, den schlechten Ruf von 3-D als teuren Gimmick aufzupolieren, um die steigenden Preise für Kinokarten zu rechtfertigen. James Cameron forderte nach seinem bahnbrechenden Spielzeug „Avatar“, Filmemacher müssten 3-D als neuartige Erzählform akzeptieren. Auf sein angekündigtes Kammerdrama wartet man bis heute, stattdessen filmt Cameron seit Jahren zwei „Avatar“-Fortsetzungen parallel.

Auch Ang Lee lässt jetzt einen Actionfilm folgen. Will Smith spielt den Agenten Henry Brogan, ein Mann für schmutzige Jobs, der unfreiwillig aus dem Ruhestand zurückkehrt, weil er Zeuge einer Verschwörung wird. Auf ihn angesetzt ist sein jüngeres Alter Ego, Junior, der Prototyp einer neuen Generation von „Klonkriegern“. So weit, so schwachsinnig.

Dass „Gemini Man“ nicht annähernd an die „Jason Bourne“-Filme heranreicht, hat aber weniger mit dem Drehbuch zu tun. Die Verfolgungsjagd zwischen dem echten und dem digitalen Smith auf Motorrädern durch eine kolumbianische Favela wirkt so unnatürlich flüssig wie in einem Videogame. Während Videospiele sich mithilfe ganzer Sweatshops von schlecht bezahlten Visual Artists einer Filmästhetik annähern, gibt Hollywood sehr viel Geld aus (laut Gerüchten fast 200 Millionen Dollar), um Kinofilme zu machen, die wie "Grand Theft Auto" aussehen.

Ang Lee ist nicht der erste renommierte Regisseur, der sich an der 3-D-Technik versucht. Peter Jackson mit seinem auf 48 Bildern pro Sekunde gedrehten „Hobbit“ und Martin Scorsese mit „Hugo Cabret“ sind vor ihm bereits gescheitert. Zu den Ausnahmen gehören Alfonso Cuarón und Werner Herzog, die mit „Gravity“ und „Die Höhle der vergessenen Träume“ das Versprechen der Immersion teilweise einlösten.

Bilder mit der Ästhetik von Fußball-Übertragungen

Das Problem mit modernem 3-D ist aber weniger ein ideologisches, sondern ein ökonomisches. Um 3-D als Standard-Kinoverfahren zu etablieren, ohne Kinderkrankheiten wie zu dunkle Bilder, Kopfschmerzen durch Bildflickern sowie schlechte CGI- und Motion-Capture-Effekte, die in 3-D umso stärker ins Auge fallen, ist tatsächlich eine erhöhte Bildfrequenz nötig. Die aber, das zeigt Ang Lees „Gemini Man“ eindrucksvoll, ruiniert das Kinoerlebnis gründlich.

Man möchte dem Regisseur von innovationsfreudigen Meisterwerken wie „Tiger and Dragon“ und „Life of Pi“ keine bösen Absichten unterstellen. Aber er befindet sich auf dem Holzweg. Ang Lee hat das Problem mit hohen Bildfrequenzen am Beispiel von „Billy Lee“ selbst beschrieben: Unter dem Mikroskop von 120 Bildern pro Sekunde wird jedes szenische Detail gnadenlos entblößt, Ungenauigkeiten, auch in der Mimik der Darsteller, fallen umso deutlicher auf.

Dazu müssen die Szenen so stark ausgeleuchtet werden, dass manche Bildhintergründe in „Gemini Man“ flach aussehen, fast wie gemalt. „Fernsehästhetik“ ist wohl der schlimmste Vorwurf, dem man einem Kinofilm machen kann. Bei einer 200-Millionen-Dollar-Produktion ist dieses Urteil verheerend.

Objektivität ist der Todesstoß für die Filmkunst

Das Problem von „Gemini Man“ besteht darin, dass der erhöhte Realismus von 120 Bildern pro Sekunde (für die Kinovorführung retrokonvertiert auf 60) das Kino seiner genuinen Eigenschaften beraubt: den „Unschärfen“, wie es die Propagandisten von 3-D neuerdings nennen, der Tiefe, weil alle Bilddetails plötzlich gleich scharfgestellt sind, dem unergründlichen Geheimnis des Kinobildes, das sich vom menschlichen Auge nicht vollkommen entschlüsseln lässt.

Es gibt gute Gründe, warum sich die Ästhetik des Kinos von der einer Sportübertragung unterscheidet. Und es sind nicht bloß technische. Die „Überwachungskamera“ bei einem Fußballspiel erfordert Objektivität, diese Skrupulosität aber ist der Todesstoß für jede Kunst.

Wer wirklich an die Zukunft des Kinos glaubt, sollte nicht darauf zählen, dass mehr „Realismus“ die Antwort auf seine Krise ist.

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