Philharmonie de Paris: Klassik an der Autobahn
Am Mittwoch wird Jean Nouvels Philharmonie de Paris eröffnet. Sie liegt in einem Arbeiterbezirk und soll neues Publikum erreichen. Richtig fertig ist das Haus allerdings noch nicht.
Es sollte eine stolze Selbstfeier der Grande Nation werden. Die französische Hauptstadt weiht einen futuristischen Konzertsaal ein, erdacht vom französischen Architektenstar Jean Nouvel. Im Parc de la Villette, im Nordosten, steht das neue Wahrzeichen, 2400 Plätze hat der große Saal, er soll die akustischen Eigenschaften des klassischen Schuhkartons- wie des Scharoun’schen Weinbergsprinzips verbinden. Es gibt fünfzehn bestens ausgestattete Probenräume, 2000 Quadratmeter Platz für Bildungs- und Jugendarbeit, 800 Quadratmeter Ausstellungsfläche und ein Panoramarestaurant.
Nun aber trägt Frankreich Trauer. Das Massaker in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ vom 7. Januar hat das Land in seinen Grundfesten erschüttert. Dennoch wird die Einweihung am Mittwoch wie geplant stattfinden. Um zu demonstrieren, dass kein Terror die freie Kunstausübung stoppen darf. Und obwohl das Gebäude nicht wirklich fertig ist.
Noch stehen Kräne vor der spektakulären Fassade, die sich bis zu 37 Meter in den Pariser Himmel erhebt und aussieht, als hätte hier ein Riese Steinplatten übereinandergeschichtet. Zwei bis drei Monate werde die Vollendung der Außenhaut aus Aluminium wohl noch dauern, heißt es aus der Philharmonie. Mit dem Abschluss der Bauarbeiten im Innern dagegen sei nicht vor dem Sommer zu rechnen. Jean Nouvel fordert sogar eine komplette Überarbeitung des Ensembles, weil die Ausführung in „mehreren hundert Details“ von seinen Plänen abwiche.
Mit dem Umbau der Opéra de Lyon, vor allem aber mit dem Luzerner Kultur- und Kongresszentrum hat Nouvel bewiesen, dass er faszinierende, dem Publikum zugewandte Orte für Liveaufführungen schaffen kann. Zudem ist er alles andere als ein Eurozentrist: Sein erstes realisiertes Großprojekt überhaupt war 1987 das Institut du Monde Arabe in Paris und auch für das 2006 eröffnete Musée du Quai Branly, das den „civilisations d’Afrique, d’Asie, d’Océanie et des Amériques“ gewidmet ist, lieferte er den Entwurf.
Andererseits ist Nouvel berüchtigt dafür, dass seine Bauten beim Bauen teurer werden. Statt der ursprünglich veranschlagten 170 Millionen Euro sind schon jetzt Rechnungen in Höhe von 380 Millionen aufgelaufen. Die Politik aber wollte den Eröffnungstermin unbedingt einhalten. Weil das Datum in den vergangenen zwei Jahren bereits mehrfach verschoben worden war. Die Schuld an der Kostenexplosion schieben sich Architekt und seine staatlichen Auftraggeber nun gegenseitig zu.
Die Philharmonie will Kultur für alle anbieten
Je zur Hälfte sollten die Stadt Paris und das nationale Kulturministerium die Philharmonie finanzieren. Kaum aber, dass Anne Hidalgo für die „Parti Socialiste“ im Frühjahr 2014 als Bürgermeisterin ins Pariser Rathaus eingezogen war, verkündete sie, dass sich die Stadt weigere, die letzte Tranche der erhöhten Baukosten von 45 Millionen Euro zu zahlen. Das tat dann Kulturministerin Fleur Pellerin. Außerdem, fügte Madame Hidalgo hinzu, werde sie den jährlichen Betriebszuschuss für den Konzertsaal um drei Millionen kürzen. Intendant Laurent Bayle hatte aber bereits mit 18 Millionen Euro pro Spielzeit kalkuliert. Auch hier sprang der Staat ein, allerdings nur mit der Hälfte der Summe. Was bedeutet, dass Bayle nun 1,5 Millionen Euro im laufenden Betrieb einsparen muss.
2,5 Millionen Menschen wohnen im Pariser Kerngebiet, weitere elf Millionen in den Vorstädten. Siebzig Prozent der Besucher der Konzertbesucher aber kamen bislang aus den 20 Arrondissements, vor allem aus den wohlhabenden. Diese Publikumsstruktur rechtfertige keinen weiteren Bau im Zentrum, erklärte Bayle gerne, wenn er nach dem Standort der neuen Philharmonie im Nordosten der Stadt gefragt wurde. Da wusste er noch nicht, dass seine staatlichen Geldgeber die berühmte Salle Pleyel für klassische Musik sperren würden. Seit dem 31. Dezember dürfen in der herrlichen Art- déco-Halle im Zentrum keine Orchester mehr auftreten – es sei denn, sie spielen Jazz, Pop oder Weltmusik. Auch Comedy ist erlaubt. So funktioniert in Frankreich Kulturpolitik: Wenn der Staat es nicht will, findet keine Konkurrenz statt.
Doch es sollen nicht nur die bürgerlichen Klassikfans gezwungen werden, sich künftig zum Musikgenuss zum Parc de la Villette direkt an der Stadtautobahn zu begeben. Wenn Intendant Bayle auf die Dachterrasse der Philharmonie steigt und nicht in Richtung Sacré Coeur blickt, hat er die „neuen Horizonte“ vor Augen, die er in seiner Programmplanung so gerne betont: Die Schlafstädte, in denen jene Leute leben, die zwar in Paris arbeiten, es sich aber nicht leisten können, dort zu wohnen. Und darum auch das innerstädtische Kulturangebot wenig nutzen. Diese Besuchergruppen will Bayle erschließen.
Die Frage ist nur: Wenn man Kultur für alle machen will, genügt es dann, symbolisch einen Konzertsaal ins Arbeiterviertel zu setzen? Und wenn die Educationarbeit im Vordergrund steht, wenn Kinder und Jugendliche mit dem Genre vertraut gemacht werden sollen, wenn es darum geht, generationsübergreifend Hemmschwellen abzubauen, braucht man dann dafür wirklich einen 380 Millionen Euro teuren Solitär?
Anders als in Deutschland, wo die Tradition lokaler Kulturinstitutionen mit Theater, Orchester und oft auch Oper durch die Kleinstaaterei der vergangenen Jahrhunderte fest etabliert ist, wo Hochkulturkonsum selbstverständlich zum Alltag gehört und auch die „einfachen Leute“ ihre Abos haben, gilt im zentralistisch organisierten Frankreich gerade die klassische Musik als Vergnügen für Privilegierte.
Mit dem Besuch der Opéra zeigen hier viele ihren sozialen Status, ebenso wie mit dem Besuch von Sterne-Restaurants. Wenn Bayle davon spricht, dass jene, die die Klassik wirklich lieben, den Weg zur neuen Philharmonie schon finden würden, meint er damit auch, dass er die Kultur-Snobs nicht vermissen wird.
Bayle meint es zweifellos ehrlich mit seinem Ziel, ein Haus ohne Hemmschwellen betreiben zu wollen. Und er weiß Jean Nouvel auf seiner Seite. Der Architekt hat stets betont, dass er die Philharmonie als „Centre Pompidou“ der Musik konzipiert habe. Das von Richard Rogers und Renzo Piano geschaffene Kunst- und Bibliothekszentrum mit seiner Fassade aus sichtbaren Stützverstrebungen und außen liegenden Rolltreppen war bei der Eröffnung 1977 heftig umstritten. Doch es entwickelte sich bald zu einem populären Treffpunkt, ja zu einer der Hauptsäulen der Pariser Kulturszene. Das Centre Pompidou allerdings – und da könnte Nouvels Denkfehler liegen – befindet sich genau im Herzen der Pariser City.
Infos: www.philharmoniedeparis.fr