Kultur: Frankreichs Philharmonie
Jean Nouvel baut in Paris einen futuristischen Konzertsaal für 2400 Besucher. Die Kosten explodieren, die Eröffnung ist für Herbst 2014 geplant
Was Berlin schon lange hat, will Paris nun endlich auch: einen international konkurrenzfähigen Konzertsaal. Zwar ist es nicht so, dass die großen Orchester einen Bogen um die französische Hauptstadt machen. Gerade waren zum Beispiel die Berliner Philharmoniker zu Gast; die Ensembles finden an der Seine durchaus Konzerthäuser mit akzeptablen Aufführungsbedingungen wie das Théâtre du Chatelet, die Salle Pleyel oder das Théâtre des Champs-Elysées. Dennoch fühlt sich Paris seit längerem im Hintertreffen gegenüber all den Metropolen, die in den letzten Jahrzehnten mit neuen Musentempeln punkteten, von Köln bis Los Angeles, von Peking bis Kopenhagen, von Dortmund bis Luzern.
An der Mutter vieler neuer Konzerthäuser, der Berliner Philharmonie mit ihrem „Weinberg-Modell“ der um das Podium aufsteigenden Ränge, orientiert sich der Entwurf von Jean Nouvel für die französische Hauptstadt, der bis Herbst 2014 Realität werden soll. Die äußere Erscheinungsform jedoch unterscheidet sich erheblich: Das Gebäude, das derzeit im Osten von Paris, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Cité de la Musique, errichtet wird, gleicht aus der Ferne einem planlosen Durcheinander von riesigen, schräg zueinander stehenden Platten. Die Ecken, Kanten, spitzen Winkel und schiefen Ebenen wirken, als habe ein Erdbeben gigantische Stahlplatten gegen- und ineinandergeschoben. Aus dieser kunstvollen Asymmetrie ragt ein gewaltiger Quader heraus, der in der Dunkelheit als Projektionsfläche dient. Autofahrer auf der dicht an der Pariser Philharmonie vorbeiführenden Ringautobahn können so das jeweilige Abendprogramm ablesen.
Die Pläne reichen bis in die Ära von Kulturminister Jack Lang in den achtziger Jahren zurück, wurden aus Geldmangel allerdings wieder beerdigt. Erst im Jahr 2006 kam erneut Bewegung in die Sache. Staat und Stadt Paris gründeten die Trägergesellschaft L’Association Philharmonie de Paris. Aus dem ein Jahr später durchgeführten Architektenwettbewerb ging das Büro von Jean Nouvel als Sieger hervor.
Sein Entwurf will mehr als ein Konzertsaal sein, nämlich ein offener, beinah ganztägig zugänglicher Ort, kein exklusiver Raum für Klassik-Insider. Ein Café, ein Restaurant, ein Buch- und Medienshop sowie eine Galerie sollen dazu beitragen, Leute ins Haus zu locken. Hinzu kommen sechs Probensäle, zehn Probestudios und ein großzügiger Bereich für musikpädagogische Projektarbeit.
Herzstück ist der große Saal mit 2400 Plätzen. Der optische Gesamteindruck wird vom Schwung und den fließenden Linien der Ränge bestimmt. Die Balkone sind von den Wänden getrennt und schweben wie Gondeln im Saal. Das soll eine offene und zugleich intime Atmosphäre schaffen, wie in einem Kokon. Was den Augen recht ist, soll den Ohren billig sein: von der Musik soll der Zuhörer umhüllt werden. Dazu dient unter anderem ein ausgeklügeltes System von festen und variablen Reflektoren. Die Nachhallzeit wird bei zwei bis 2,3 Sekunden liegen. Das Klangkonzept wurde von Harold Marshall und dem japanischen Akustikmeister Yasuhisa Toyota erdacht. Vom Klavierrecital bis zur konzertanten Oper, von Jazz bis Weltmusik. Alles soll auf hohem Niveau möglich sein.
Um ganz vorn mitspielen zu können, geben die Stadt Paris, der Staat und die Region Île-de-France viel Geld aus. Die geschätzten Baukosten liegen derzeit bei offiziellen 336 Millionen Euro. Die Summe übersteigt die Ausgangsschätzung um rund 200 Millionen. Mittlerweile kursiert sogar die Summe von 387 Millionen Euro. Trotzdem verteidigt die neue Kulturministerin Aurélie Filipetti das Projekt. Mehrere andere spektakuläre Megaprojekte, erdacht in der Sarkozy-Ära, musste sie dagegen bereits beerdigen. Die Philharmonie aber bleibt verschont, zu weit ist der Bau schon fortgeschritten. Die Eröffnung ist für Herbst 2014 vorgesehen.
Die Landschaft der Konzertsäle in Paris wird sich damit verändern. Für die städtische Salle Pleyel, bisher gewichtigster Spielort für sinfonische Musik, muss ein neuer Spielplan her. Und auch das private Théâtre des Champs-Elysées, das gerade sein 100-jähriges Bestehen feiert, wird die neue Konkurrenz aufmerksam beäugen. Nach außen allerdings gibt man sich gelassen. Wie aus dem Haus verlautet, vertraut man auf die Treue des Stammpublikums.
Mathias Nofze