Oscar-Hoffnungen 2012: Die Rückkehr der Retro-Filme
Wim Wenders ist mit "Pina" nominiert – "Hugo Cabret" und "The Artist" haben die meisten Chancen. Die Liste der Nominierten hat einen auffälligen Schwerpunkt.
Am Ende, in den nervösen Momenten kurz vor der Bekanntgabe der Nominierungen am Dienstagnachmittag, hielten die Prognostiker sich noch an die schönsten Nebentatsachen der Welt. Nicht die Jungschauspieler Anne Hathaway und James Franco, die 2011 die Oscar-Zeremonie inspirationslos in Grund und Boden moderiert hatten, haben diesmal den Zuschlag bekommen. Sondern ein alter, um nicht zu sagen: uralter Hase. Der Entertainer Billy Crystal steht als herzenslustiger Gastgeber am 26. Februar zum bereits neunten Mal auf den Brettern des Kodak Theatres in Los Angeles, die bekanntlich den Film-Olymp bedeuten.
Und nun der Doppeldonnerschlag: Das Kino, blickt man nur auf die Nominierungen zur 84. Oscar-Verleihung, ist retro wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In Zeiten der ökonomischen Krise wie der Fixierung auf nur mehr technische Neuerungen besinnt es sich auf seine alten, um nicht zu sagen: uralten Werte. Wo der Markt gierig auf den ästhetisch oft unbefriedigenden 3-D-Boom setzt und mit der Schwemme von Remakes und Sequels nur mehr seine lähmende Fantasielosigkeit beweist, genügen ein paar luftige, unangestrengt tiefsinnige Filme über die Anfänge des Kinos, um die knapp 6000 Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences zu einem wahren Nominierungssegen hinzureißen.
Elf Oscar-Chancen für „Hugo Cabret“, zehn für „The Artist“: Mit beeindruckendem Abstand führen zwei filmgeschichtsverzückte Filme das Konkurrentenfeld an. Martin Scorseses „Hugo Cabret“, der am 9. Februar bei uns ins Kino kommt, ist eine einzige Liebeserklärung an den Pionier und Poeten Georges Méliès, die – gedreht in endlich wieder einmal betörendem 3-D – die Anfänge und die neuesten Möglichkeiten des Mediums in sich vereint. Und anders als Scorseses zart pädagogischer Kinderfilm, der an den US-Kinokassen schon fast abgespielt war, legt Michel Hazanavicius’ „The Artist“, als französischer Exotenfilm mit unbekanntem Regisseur und unbekannten Darstellern in den USA äußerst diskret gestartet, dort Woche für Woche mächtig zu. Schon möglich, dass die zauberhafte Stummfilm-Hommage mit einer ebenso zauberhaften Love Story bei den Oscars am Ende ganz, ganz oben landet.
Schließlich setzt die von Schauspielern dominierte Academy mit besonderer Hingabe auf Schauspieler – und bei den Nominierungen glänzt hier „Hugo Cabret“ durch Abwesenheit und „The Artist“ mit dem famosen Paar Jean Dujardin und Bérénice Bejo. Unter den ausgesprochenen Schauspielerfilmen punkten vor allem „Moneyball“ (sechs Nominierungen, Start am 2. Februar) mit Brad Pitt und Jonah Hill, der am Donnerstag ins Kino kommende „The Descendants“ (fünf Nominierungen), der George Clooney seinen ersten Hauptrollen-Oscar einbringen könnte, und das bereits angelaufene Südstaatendrama „The Help“, mit den nominierten Viola Davis, Jessica Chastain und Octavia Spencer.
Außerdem im Rennen um den besten Film: Steven Spielbergs rührende Pferdegeschichte „War Horse“ (fünf Nominierungen), die hierzulande am 16. Februar unter dem Titel „Gefährten“ anläuft, Terrence Malicks „The Tree of Life“ (drei Nominierungen) und der Berlinale-Wettbewerbstitel „Extremely Loud & Incredibly Close“ nach dem gleichnamigen Roman von Jonathan Safran Foer. Und wie steht es um den Retro-Faktor von Woody Allens „Midnight in Paris“? Der weltweite Publikumsliebling mag nicht ausdrücklich die Frühzeit des Kinos feiern, wohl aber – im Rahmen einer traumhaften Zeitreise – die Künste in Paris in den Zwanziger Jahren und zurück bis zur vorvergangenen Jahrhundertwende. Der Lohn der Academy: Zusatznominierungen für Regie, Ausstattung und Drehbuch.
Und die Oscars aus deutscher Sicht? Höchst erfreulich die Tatsache, dass Wim Wenders mit „Pina“ dabei ist, seiner höchst sinnfällig in 3-D gedrehten Doku-Hommage an Pina Bausch und ihr Wuppertaler Tanztheater. Zunächst konnte er offenbar auch auf eine Nominierung als bester Auslandsfilm hoffen, aber hier ist wohl nun Asgar Farhadis letztjähriger Berlinale-Erfolg „Nader und Simin“ Favorit. Immerhin hat Wim Wenders in Sachen Doku schon vor zwölf Jahren mit „Buena Vista Social Club“ bei der Academy angeklopft. Da sollte doch, nach Florian Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ (2007), für Deutschland in L. A. demnächst mal wieder was zu feiern sein.