Lars von Triers "Melancholia": Der letzte Augenblick
Der Regisseur Lars von Trier erweist sich immer deutlicher als der Seismograf eines apokalyptischen Zeitalters, der die tiefsten Ängste der Menschheit in Bilder verwandelt. "Melancholia" ist der ungewöhnlichste Katastrophenfilm der Filmgeschichte.
Der Skandal ist erst wenige Monate her, aber wer damals in Cannes war, erinnert sich, als sei seither kaum Zeit vergangen. Lars von Triers verhängnisvoll durchgeknallte „Okay, ich bin ein Nazi“-Pressekonferenz, gegeben am Mittwoch vor dem Schlusswochenende, war keiner jener Aufreger, wie sie selbst den altehrwürdigsten Festivals von Zeit zu Zeit guttun. Eine ganze Menge wertvoller Dinge gingen damals mit einem Mal schmerzhaft kaputt. Und, so viel ist sicher, nennenswert repariert sind sie bis heute nicht.
Indem die Festivalleitung sich genötigt sah, den dänischen Dauerprovokateur von ihrem Gelände regelrecht zu verbannen – ein Novum in der Festivalgeschichte –, provozierte sie selbst die Debatte, ob diese Maßnahme angesichts seiner schnell nachgeschobenen Entschuldigung zwingend nötig war. Dann interessierte sich, auch als die weiterhin Interviews gebende persona non grata nun genüsslich nachkartete, kaum jemand mehr für die durchaus bemerkenswerten Filme, die an den verbleibenden Tagen gezeigt wurden. Vor allem aber redete niemand mehr über Lars von Triers Wettbewerbsbeitrag, der doch – neben Terrence Malicks kontroversem „The Tree of Life“ – den stärksten Eindruck gemacht hatte. Ja, es wirkte, als wollte der entfesselte Erfinder des Weltuntergangs-Epos „Melancholia“ nun auch sein Werk in den Flammen des eigenen Furors brennen sehen.
Nach dem Bann von Cannes
Ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Die Jury unter Robert de Niro fand einen Weg, mit dem Preis für Hauptdarstellerin Kirsten Dunst den vom Festival verstoßenen Regisseur indirekt zu ehren – schließlich ist deren von Depressionen gepeinigte Figur Justine ihrem Drehbuchverfasser und Inszenator keineswegs wesensfremd. Andererseits hat der Däne seither kaum eine Gelegenheit ausgelassen, von der Neugier auf seinen beeindruckenden Film abzulenken. Im Sommer ließ er, in dramatischer Demutsgeste, angesichts der Vorliebe des Massenmörders von Utöya für seinen Film „Dogville“ verlauten, er bereue, den Film gedreht zu haben – als gäbe es keinerlei Unterschied zwischen Kunst und Leben. Dann machte er sich mit erratischen Ankündigungen wichtig, ins Pornogeschäft einzusteigen und fortan keinerlei Pressekonferenzen mehr zu geben – mit der absurden Begründung, er sei damals in Cannes völlig unvorbereitet zu einem Auftritt vor 200 Journalisten genötigt worden. Zuletzt, Anfang September in Berlin, brüstete er sich erneut mit dem Bann von Cannes.
Nun kommt „Melancholia“ ins Kino, und dieses in seiner Substanz unendlich stille, suggestive Werk hat so viel Kraft, das nimmermüde Getöse seines Regisseurs zumindest für den Augenblick der Wahrnehmung seiner Bilder vergessen zu machen. „Melancholia“ stürzt geradewegs in die Tiefen eines in drei Schichten gelagerten Traums. Ganz unten siedelt der Horror des Weltenendes – aber er ist in so betörende Bilder gefasst, dass der Zuschauer vor lauter Faszination das Erschrecken vergisst. Dann taucht das wie somnambul wahrgenommene Geschehen behutsam hinauf in etwas, das man die Realität nennen könnte. Doch was, wenn sich im Tatsächlichen der eigentliche Albtraum erfüllt?
In Sekundenbruchteilen brennen Kontinente
Slow Motion mit Totalen, eine Farbpalette aus tiefem Braun, morastigem Dunkelgrün und morbid ausgeleuchtetem Goldgelb, dazu auf der Tonspur die Ouvertüre aus Wagners „Tristan und Isolde“: So hebt das an. Zwischen gewaltigem Schloss und düsterem See ein Park, in dessen totem Bewuchs man bis zu den Knien wie in Schnee einsinkt. Vögel stürzen vom Himmel, Blitze schlagen in Strommasten und Fingerspitzen ein. Justine im Brautkleid, dessen Schleppe abgestorbenes Wurzelgeflecht aus dem Boden zu ziehen scheint, als wollte sie ihre schöne Trägerin an Ort und Stelle begraben. Und dann der riesige blau schimmernde Planet, in dem die Erde verschwindet wie ein fadenloses Samenköpfchen in der Eizelle. Keine Kollision, sondern eine Inkorporation, und binnen Sekundenbruchteilen fangen ganze Kontinente Feuer wie altes Landkartenpergament.
Schon diese zehn Minuten knipsen die Überwältigungsimpulse aus, mit denen Malick sich in „The Tree of Life“ durch seine fünfmal längere kosmische Ouvertüre quält. Und wie viel nachhaltiger wirkt dann erst Lars von Triers höchst dysfunktional funkelnde Hochzeitsszenerie gegenüber Malicks statischer Familienaufstellung! Der Däne erfindet ein gänzlich und grässlich aus dem Leim gehendes Fest wie einst Thomas Vinterberg in seinem Dogma-Klassiker „Festen“ (1998), nur dass die Nacht dieser Feier nicht hyperrealistisch, sondern traumwandlerisch vergeht. Und der anfängliche Faststillstand auf Seelenmeeresgründen weicht einem eher tänzelnden Zeitmaß, gefilmt mit einer wenig nervösen Handkamera.
Das kaltblaue Licht des Planeten Melancholia
Justine (Kirsten Dunst) und ihr Frischvermählter Michael (Alexander Skarsgard) sind ja zunächst sooo lustig, als sie – die Stretch-Limo war denn doch arg lang für die kurvige Anfahrt – zwei Stunden zu spät zur Feier im schlossartigen Anwesen am See eintreffen. Aber Justines Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) ahnt schon, wie gefühlsgrenzwertig Justine in die Festgesellschaft hineinschlingert, und beider geschiedene Eltern – Charlotte Rampling als schöne Hexe, John Hurt als seniler Trottel – tun mit ihren Auftritten das ihre, um das Ereignis gründlich zu verschatten. Außerdem unter den Gästen: Stellan Skarsgard als Justines fies-jovialer Chef, der ihr mit dem potenten Milchgesicht Tim (Brady Corbet) einen zuführt, der dem Ehemann schon in der Hochzeitsnacht Hörner aufsetzt. Oder ist es vielmehr Justine, die, noch im Brautkleid, im fahlen Licht des Parks den Fremden niederwirft wie ein Opfer?
Justine taumelt durch diese Nacht, mal gefügig, mal sich in Badewannen oder Kinderbetten flüchtend, eine hypersensible Depressive, die ihrer Krankheit nicht entkommt. Und als sie, alle Gäste mitsamt dem Bräutigam sind vertrieben oder geflohen, sich auf ihre Weise einrichtet im Anwesen von Claire und Schwager John (Kiefer Sutherland), ist sie es, die die Ankunft des Planeten Melancholia herbeisehnt – und sei es nackt und nachts, hingegeben an sein kaltblau abstrahlendes Licht. Da mag John seine Claire und seinen kleinen Sohn Leo (Cameron Spurr) noch so sehr beruhigen mit Hinweisen auf Wissenschaftler, die einen Zusammenstoß des Planeten mit der Erde ausschließen; Justine ahnt es besser, und bald geht sie in der kleinen Familie umher wie eine Komplizin des Todes für alle.
Mein eigenes Ende der Welt
Der ungewöhnlichste Katastrophenfilm der Filmgeschichte mündet in einen Frieden in letzter Sekunde, immerhin – und er senkt sich über eine verbliebene Schar, die sich nur noch vorbereitet für den gemeinsamen letzten Augenblick. Ja, auch der Zuschauer und Zeuge des unerhörten Geschehens ist eingeladen, nach den zahlreichen Martyrien der Hochzeitsfestnacht diesen Frieden zu teilen. Das Leben auf dieser Erde, gibt Justine alias Lars von Trier zu verstehen, war und ist es nicht wert. Nur hat dieser große Künstler anders als andere Depressive, die gegen alle eigene Furcht bloß davon träumen, das Ende der Welt mal eben selber grandios erfunden.
Nietzscheanisch mag das sein in seinem Nihilismus, wagnerianisch in seinem Pathos – nur die Assoziation zur dröhnenden Monstrosität der Nazis, die der mit einer Jüdin verheiratete, in seiner Heimat gegen die Rechtsradikalen kämpfende Lars von Trier in Cannes kaspernd für sich in Anspruch nahm, stellt sich in keinem Augenblick des Filmes ein. Im Gegenteil: Am Anfang ist die Stille der gemäldeartigen Bilder, und bald wird sie als Auftakt einer Art Heilung begreiflich. In seinen filmischen Albträumen erweist sich Lars von Trier immer deutlicher als der Seismograf eines apokalyptischen Zeitalters, der die tiefsten Ängste der Menschheit in Bilder verwandelt. Wenn es denn tatsächlich einem Ende entgegengehen sollte: Sanfter als in „Melancholia“ könnte es nicht sein.
Ab Donnerstag im Kino.
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