Die 72. Filmfestspiele von Locarno: Kino, das vom Leben erzählt
Nachdem Carlo Chatrian als Festivalchef zur Berlinale gewechselt ist, leitet Lili Hinstin die Filmfestspiele. Ein gelungener Start.
Bilder aufeinander loslassen und schauen, was passiert – so einfach lässt sich die Aufgabe eines Filmfestivals umschreiben. Für die Besucherin heißt das, den einzelnen Film nicht als abgeschlossenes Werk zu nehmen, sondern ein Programm als work in progress zu begreifen. In diesem Sinne hat der in Serbien lebende Afro-Amerikaner Greg de Cuir Jr. die Retrospektive des Filmfestivals von Locarno zusammengestellt. Ihr Titel: „Black Light“. Der Kurator arbeitet offensiv mit einem erweiterten Begriff des Black Cinema. Er versammelt die unterschiedlichsten Blicke – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht – auf schwarzen Lebenswelten. Und er hält im Kino Gran Rex mit seinen gemütlichen Ledersesseln vor jedem Film kurze emphatische Einführungen. Er wolle das Black Cinema vor dem Ghetto bewahren, so de Cuir Jr., es dürfe nicht im Schatten anderer Kinematografien stehen.
In Zeiten politisch korrekter Bilderwelten hat dieses Konzept etwas Befreiendes. Ende der 1960er Jahre gab es jedenfalls keine Welle der Empörung, als der Regisseur Robert Downey Sr. seinen schwarzen Titelhelden „Putney Swope“ synchronisierte, weil dieser permanent seinen Text vergaß. Handelt es sich hier um Blackfacing mit anderen Mitteln oder um die aus der Not geborene Improvisationskunst eines Low Budget Filmemachers? In ähnlich ambivalenten Spannungsfeldern bewegen sich die Bilder der Retrospektive, die sich stets einer vereinfachenden Zuordnung widersetzen.
In seinem tagebuchartigen Filmessay „Notizen zu einer afrikanischen Orestie“ (1969) sehen wir Pier Paolo Pasolini bei den Vorbereitungen für seine moderne Fassung der Tragödie von Aischylos, die in einem von Stämmen beherrschten Afrika spielen sollte. Pasolini bereist Uganda und Tansania auf der Suche nach Schauplätzen und Personen. Mit sanfter Stimme beschreibt er seine Eindrücke, überlegt, ob die im Busch spielenden Kinder sein griechischer Chor sein könnten oder der stolze Massai die Idealbesetzung des Agamemnon sei. Nutzt hier ein Regisseur die exotische Kulisse? Oder setzt er einen interkulturellen Dialog in Gang?
Die Jury unter Vorsitz von Catherine Breillat sucht neue Blickwinkel
Dass er Afrikaner wie Insekten zeige, diesen Vorwurf musste sich der Ethnologe und Filmemacher Jean Rouch von seinem senegalischen Kollegen Ousmane Sembène machen lassen. In Rouchs Komödie „Petit à Petit“ (1970) ist es allerdings ein Schwarzer, der die seltsamen Verhaltensweisen der Pariser studiert. Auf der Straße bittet er Frauen und Männer, ihren Mund zu öffnen, ist erschüttert über den schlechten Zustand ihrer Zähne. Wenn Rouchs Held und sein Freund mit einem Oldtimer-Cabrio über die Champs Elysées düsen, als würde ihnen die Prachtstraße alleine gehören, dann karikieren sie zugleich das Verhalten weißer Menschen in ihren Ländern.
Umkehrung der Verhältnisse, Verschiebung der Blickwinkel, Annäherung an andere Lebenswelten – besteht in diesen Strategien nicht die Herausforderung an alle Filme des Programms? Die Jury unter dem Vorsitz der französischen Regisseurin Catherine Breillat hat Werke und Filmemacher ausgewählt, die sich ihr ganz selbstverständlich stellen.
Dazu gehört der Portugiese Pedro Costa, der seit Jahrzehnten mit angolanischen und kapverdischen Einwanderern zusammenarbeitet, um anhand ihrer Biografien und Erfahrungen einen filmischen Raum zu erschaffen. Auch in seinem mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichneten Film „Vitalina Varela“ erzählt Costa ein Leben, eine Existenzform. Es beginnt mit einer Ankunft. Die von den Kapverden stammende gleichnamige Titelheldin landet in Lissabon, doch sie kommt zu spät: Ihr Mann ist drei Tage zuvor gestorben. Viele Jahre haben die beiden sich nicht gesehen. Nun sitzt Vitalina Varela in dessen armseliger Behausung am Stadtrand.
Pedro Costa hält die Trauer der Witwe über den Verlust, eine nicht gelebte Liebe in eindrücklichen gemäldeartigen Bildern fest. Er leuchtet die Dunkelheit aus, die seine Heldin empfindet und einhüllt. Mal fällt das Licht auf ihr Gesicht, auf ihre Hände, dann wieder auf die kargen Wände, von denen die Farbe abblättert. Costa bebildert nicht Vitalina Varelas Geschichte, er zeigt ihre Gefühle, ihre Trauerarbeit – und dafür braucht es Zeit. Die beharrliche Ruhe seiner Kamera lässt uns das kadrierte Bild vergessen. Und plötzlich wird eine ganze Welt in ihrer Wahrhaftigkeit präsent.
Für ihr sehr physisches Spiel erhielt Vitalina Varela, die den gleichen Namen wie die Filmfigur trägt, völlig zu Recht den Preis als beste Darstellerin. Alles, was sie empfindet, drückt sie mit ihrem Gesicht, mit Gesten und Bewegungen aus.
Auch der französische Regisseur Damien Manivel verlässt sich auf seine Bilder. Wie sein portugiesischer Kollege Körper, inszeniert er in Räumen. Auch in seinem Film, „Isadoras Kinder“, der den Preis für die beste Regie erhielt, geht es um einen Verlust: Nach dem Unfalltod ihrer beiden Kinder schuf die Tanzpionierin Isadora Duncan das Solo „Mother“. Darin wiegt eine Mutter in extremer Zärtlichkeit ihr Kind, bevor sie es gehen lässt. Manivel lässt dieses Solo von drei Frauen unterschiedlichen Alters tanzen: einer jungen angehenden Tänzerin, einem behinderten Kind und einer älteren schwarzen Frau. Allein durch die Art, wie sie den Tanz interpretieren, tauchen wir in ihre Gefühlswelten ein.
Glück in der Ferne? "Das freiwilliges Jahr“ zeigt Ängste und Träume
Das Regieduo Ulrich Köhler und Henner Winkler kommt seinen Figuren wiederum mit einer beweglichen Kamera sehr nahe. Ihr Film „Das freiwillige Jahr“ verzichtet ebenfalls auf psychologische Erklärungen und eine herkömmliche Dramaturgie. Im Mittelpunkt steht eine Vater-Tochter-Beziehung. Jette hat ihren Rucksack gepackt. Für ein freiwilliges soziales Jahr in Costa Rica. Doch will sie wirklich in die Ferne ziehen? Oder erfüllt sie nur den Wunsch ihres Vaters?
Der Film spielt während weniger Tage und ist so präzise geschrieben und inszeniert, dass eine ganze Welt der Ängste, Sehnsüchte und verpassten Träume entsteht – während die ewige Besserwisserei des Vaters eine schöne Situationskomik mit sich bringt. „Das freiwillige Jahr“ mag bei der Vergabe der Leoparden leer ausgegangen sein, doch tritt der Film mit seiner eher beobachtenden Erzählhaltung in einen Dialog mit den anderen Beiträgen des Festivals.
Im schönsten Sinne des Wortes hat die 72. Ausgabe von Locarno – die erste unter der neuen künstlerischen Leiterin Lili Hinstin – das Publikum herausgefordert. Mit Bildern, die nicht zwangsläufig interpretiert oder gedeutet, sondern die zunächst einmal nur gesehen werden wollen.
Anke Leweke
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