Interview mit dem Autor JJ Bola: „Keine Bewegung hat mehr für Männer getan als der Feminismus"
„Sei kein Mann“: Ein Gespräch mit dem Autor JJ Bola über Zärtlichkeit in Freundschaften, Isolation im Alter und weinende Spitzensportler.
Herr Bola, Ihr neues Buch heißt: „Sei kein Mann – Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist“. Was ist denn so schlimm daran, ein Mann zu sein?
Wir werden oft dazu sozialisiert, aggressiv und gewalttätig zu sein, stark aufzutreten und jemanden zu dominieren. In meinen Teenagerjahren bin ich häufig in Schlägereien verwickelt gewesen. Nicht weil ich es wollte, es war sozialer Druck. Auf der anderen Seite dürfen wir keine Emotionen zeigen. Wenn Du als Mann sagst, was du fühlst, wird das schnell als Verletzlichkeit ausgelegt. Das gilt selbst bei freundschaftlicher Zuneigung und Liebe.
Sie schreiben, dass heterosexuelle Männer von der Liebe „wegsozialisiert“ werden.
Uns wird beigebracht, dass Sex die primäre Wurzel der Liebe ist. Man lehrt uns wenig über nicht-körperliche Intimität oder nicht-romantische Intimität zwischen Männern. Warum fällt es uns so schwer, einem Mann „Ich liebe dich“ zu sagen, ohne „Bruder“ oder „No homo“ anzufügen? Von Frauen erwarten wir aber, dass sie Intimität mit uns teilen, dass sie verletzlich sind, dass sie uns lieben.
Was bedeutet es für Sie eigentlich, ein Mann zu sein?
Es gibt so viele Stereotype. Ein Mann soll stark sein, logisch und stoisch. Ich betrachte es dagegen als etwas Fluides. Alle Männer, die ich kenne, sind sehr verschieden. In ihrer Sexualität, ihrer Herkunft und ihrem Ausdruck. Letztlich geht es doch darum, man selbst zu sein, sich wohlzufühlen im eigenen Körper. Nicht um Abgrenzung zu Anderen.
Wann haben Sie begonnen, sich kritisch mit Männlichkeit auseinanderzusetzen?
Schon als Kind probierte ich die Schuhe mit hohen Absätzen meiner Mutter an. Jahre später las ich, dass diese einst ein Statussymbol für aristokratische Männer waren. Heute gelten sie als „unmännlich“. In der kongolesischen Gesellschaft ist es total normal, dass Männer Händchen halten. So lief ich in London mit Onkeln und Cousins herum. Wir wurden komisch angeschaut. Da kam ich ins Nachdenken.
Sie spürten, dass Sie gesellschaftliche Erwartungen nicht erfüllen?
Ich war schon in jungen Jahren ein sehr emotionaler Mensch. Tief in mir wusste ich, dass ich nicht immer stark sein kann. Ich ging heimlich in die Ecke und weinte.
Es gab aber auch Phasen, wo Sie selber ein ziemlicher Macho waren.
Ich bin froh, dass es früher keine Smartphones gab und somit keine Bildbeweise. Unter meinen männlichen Freunden herrschte Chauvinismus. Da wurde Stärke demonstriert. Das waren Masken. Eigentlich hatten wir eine schwere Zeit und keine Sprache, um füreinander da zu sein. 20 Jahre später sind einige dieser Menschen in schwierigen Situationen. Die hätten verhindert werden können, wenn wir die Werkzeuge zur Kommunikation gehabt hätten.
Ihr Werkzeug war das Schreiben.
Jeder Mann sollte Tagebuch führen. Mir half das Schreiben, um mich auszudrücken. Auch Lesen war wichtig. Als ich „Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus las, da dachte ich: Das bin doch ich! Er spricht darüber, wie ich mich fühle. Wie ist das möglich? Es wurde in den 1960ern geschrieben. Und er ist auch kein junger Schwarzer in London. Heute bekomme ich ähnliche Rückmeldungen von Lesern.
Gab es auch Momente, wo Sie in Männerfreundschaften in Konflikte gerieten?
Wenn meine Freunde abfällig über Frauen sprachen, kritisierte ich das. Dann hieß es plötzlich: „Du musst aufpassen, was du vor JJ sagst!“ Das war schwierig. Viele änderten ihre Sicht erst, als sie eine Tochter bekamen. Man sollte aber nicht darauf warten.
Als Sozialarbeiter betreuten Sie Männer mit psychischen Problemen. Wie hat das Ihr Bild von Männlichkeit beeinflusst?
Wenn man Mitte 20 ist, wird dir als Mann vermittelt, dass du hinter Frauen her sein sollst und viel Geld verdienen musst. Aber nicht, langanhaltende Freundschaften aufzubauen. Gerade die älteren Männer waren oft sehr isoliert. Sie hatten Beziehungen keinen Wert beigemessen. Bei manchen war ich der einzige Kontakt in der Woche. Das war schockierend.
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Viele junge Männer, mit denen ich arbeitete, strahlten eine starke Maskulinität aus. Sie forderten Autoritäten heraus, waren in Schlägereien verwickelt. Aber unter vier Augen fingen sie an zu weinen. Beziehungen verlangen Verletzbarkeit. Sonst kannst du nicht in Kontakt treten. In einem rigiden Bild von Männlichkeit stecken zu bleiben, lässt dich vereinsamen.
Sie litten selbst an Depressionen. Warum fällt es Männern so schwer, über psychische Probleme zu sprechen?
Es ist die Angst vor der Verwundbarkeit, die dich vermeintlich schwach erscheinen lässt. Wenn du dich offenbarst, musst du mit der Angst leben, dass deine Freunde dich danach nicht mehr mit gleichen Augen betrachten. Es liegt in der menschlichen Psyche, dass wir Teil einer Ingroup sein wollen.
Ist toxische Maskulinität ein westliches Problem?
Nein, aber es gibt Unterschiede. In frankophonen Gesellschaften küssen sich Männer zur Begrüßung auf die Wange. In Großbritannien ist das unter heterosexuellen Männern unvorstellbar. Aber auch innerhalb der Schwarzen Community gibt es Unterschiede. Kongolesen, Nigerianer und schwarze US-Amerikaner wachsen mit anderen Männlichkeitsbildern auf.
Die Kongolesen kleiden sich sehr farbenfroh, sind flamboyant, tanzen mit ihren Hüften. Sehr „feminin“. Auch in Fragen von Körperpflege und Selbstfürsorge. Es war selbstverständlich, dass ich meine Kleidung bügele, den Abwasch mache. Das Patriarchat existiert aber in jeder Kultur. Durch Kolonialismus und Globalisierung hat es sich angeglichen. In den wenigsten Staaten der Welt sind Frauen an der Macht.
Sie wuchsen in einem sehr religiösen Umfeld auf. Welche Auswirkungen hatte das?
Stellen Sie sich vor, was es bedeutet, wenn man fünf Jahre alt ist und hört: Wenn du etwas falsch machst, dann gehst du in die Hölle. Der kreationistische Blickwinkel ist widersprüchlich. Da gibt es diese ominöse Superkraft, die alles erschaffen hat. Aber warum sollte die etwas erschaffen, was sie nicht liebt? Wir finden es merkwürdiger, wenn zwei Männer sich auf der Straße küssen, als wenn sie sich prügeln.
Sie haben selbst Rassismus erfahren. Glauben Sie, dass Ihnen das geholfen hat, sich für Sexismus zu sensibilisieren?
Man könnte denken, dass es leichter ist, Diskrimierung zu erkennen, wenn man selbst betroffen ist. Doch wenn ich als Schwarzer mit Vorurteilen konfrontiert werde, denke ich oft nicht über Geschlechterfragen nach. Andererseits: Wenn ich in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben will, kann sie nicht nur dort gleich sein, wo es mich betrifft.
Mein Thema ist Rassimus, für andere ist es Homofeindlichkeit oder Sexismus. Zuhören hat mir geholfen – ohne Abwehrhaltung wie „Aber nicht jeder Mann ist so..." Von den sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten hat sich keiner für seinen Körper entschieden, in dem er geboren wurde. Das ist eine Lotterie.
Sie schreiben, das Patriarchat sei ein „zweischneidiges Schwert“, Männer erfahren darin nicht nur Privilegien, sondern sind auch Opfer. Viele empfinden den Feminismus aber als Bedrohung.
Nennen Sie mir eine Bewegung, die mehr für die geistige Gesundheit und das Wohlbefinden von Männern getan hat, als der Feminismus. Viele meiner männlichen Freunde kämpfen mit der Vorstellung, dass ihre Partnerin mehr verdient als sie selbst. Aber warum? Das verbessert doch Ihre Lebensqualität.
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Es ist doch eine Illusion, dass es uns besser geht, weil jemand anderes unter uns steht. Wir können auch frei sein, wenn andere frei sind.
Welche Rolle spielt denn Geld?
Toxische Männlichkeit ist im Kapitalismus verwurzelt. Denken Sie an die Filmreihe „The Fast and the Furious“. Es geht um einen hypermaterialistischen Lebensstil, der anscheinend für jeden Mann attraktiv sein soll. Das ist lächerlich. Kennen Sie den Film „Billy Elliott“? Eine brillante Darstellung für eine andere Art von maskulinem Ausdruck. Ein Junge, der das Tanzen einfach liebt.
Sie schreiben, dass ausgerechnet der Profisport andere Ausdrucksformen erlaubt.
Sport ist der einzige Bereich, wo Männer wirklich emotional sein dürfen. Ich habe als Leistungssportler Basketball gespielt. Ich erinnere mich, wie wir Finalspiele verloren haben und alle in der Kabine weinten. Das wäre nirgendwo anders akzeptiert. Es ist schön, Sportler wie Roger Federer weinen zu sehen. Zugleich werden im Sport aber auch Stereotype heterosexueller Männlichkeit reproduziert.
[Tagesspiegel-Podcast "Gyncast" (Folge 11): Wie sexualisierte Gewalt das Leben von Frauen beeinflusst: Catcalling, Belästigung und Vergewaltigung - viel zu viele Frauen kennen es. Folge 11 der völlig unzensierten Sprechstunde mit Dr. Mandy Mangler]
Gibt es „männliche“ Qualitäten, die Sie als bewahrenswert empfinden?
Wir sollten nicht alle Eigenschaften, die mit Männern assoziiert werden, völlig abschaffen. Wenn man als Mann als Beschützer gesehen wird, dann ist das in Ordnung. Aber alle Menschen haben feminine und maskuline Qualitäten. Vielleicht sind Sie ein guter Zuhörer oder ein liebevoller Mensch. Diese Eigenschaften sind Teil unseres menschlichen Spektrums. Einer meiner Kollegen fragte mich kürzlich, ob ich wüsste, wie man Regale aufstellt – ich hatte keine Ahnung. Eine andere Kollegin besitzt einen Haufen Elektrowerkzeuge und erledigte das gern. So ist es eben.
Was ist ihr Rat an junge Männer?
Man sollte sich die Zeit nehmen, allein zu sein. Ohne äußere Einflüsse erkennen wir, wer wir wirklich sind. Und dann können wir das auch selbstbewusst nach außen tragen. Vielleicht wird es nicht jeder akzeptieren, vielleicht wird es nicht jeder verstehen. Aber es ist so viel freier, ganz man selbst zu sein, als halb so zu leben wie jemand anders.
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