„Dschihadista“ im Heimathafen Neukölln: Junge Frauen auf dem Kriegspfad
Was treibt junge Frauen dazu, sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen? Das dokufiktionale Stück „Dschihadista“ im Heimathafen Neukölln verhandelt diese Frage einfühlsam und bildstark.
Jeder Mensch wird als Moslem geboren. Ist ganz logisch. Moslem bedeutet schließlich nichts anderes als: Gott ergeben. Und trifft das nicht auf alle Kinder zu, die das Licht der Welt erblicken? Unschuldig, gottergeben? Tamer hat jedenfalls keine Zweifel an der Schlüssigkeit seiner Argumentation. Er kann auch ziemlich plausibel erklären, weshalb ein schlechter Mensch, der gläubig ist, über kleinere Fegefeuer-Umwege ganz selbstverständlich noch in den Himmel gelangt. Wohingegen ein guter Mensch ohne Glauben leider zur ewigen Höllenqual verdammt ist.
Inka hält das alles für einen Haufen Bullshit. Als evangelisches Kind auf einem katholischen Internat hat sie genügend Herablassung erfahren, um mit diesem ganzen „Meine Religion ist besser als deine!“-Gedöns abzuschließen und sich zur überzeugten Atheistin zu erklären: „Lieber ein iPhone im Hier und Jetzt als irgendwelche Versprechen im Jenseits“. Ersatzangebote für Frömmigkeit hält der Kapitalismus ja en masse parat.
Perspektivreiche Beleuchtung
Das könnte man jetzt so stehen lassen. Der eine glaubt dies, der andere das. Keine große Sache. Aber so läuft es nun mal nicht. Der Mangel an Sinnstiftendem in der westlichen Welt treibt immer wieder Menschen, gerade auch junge, in die Radikalisierung. Davon erzählt der Abend „Dschihadista - Lost in Paradise“ im Heimathafen Neukölln, den Nicole Oder inszeniert hat, auf der Grundlage einer Recherche von Güner Yasemin Balci. Ein erprobtes Team also. An der Karl-Marx-Straße sind in Oders Regie und Fassung ja schon Balcis Bücher „Arabboy“ und „ArabQueen“ auf die Bühne gekommen. Geschichten aus der sogenannten Parallelgesellschaft, die für Kontroversen gesorgt haben – ein Vorwurf lautete stets, sie befeuerten die ohnehin grassierende Islamophobie.
Davon kann im Falle von „Dschihadista“ nun wirklich keine Rede sein. Das künstlerische Team versucht hier nachzuvollziehen, was junge Frauen aus Berlin dazu treibt, nach Syrien oder in den Irak zu reisen, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Das hat nichts Reißerisches, nichts von den grellen „Dschihad im Kinderzimmer“- oder „Meine Tochter wurde als Sex-Sklavin an den IS verkauft“-Schlagzeilen. Vielmehr ist auf Grundlage von Chat-Protokollen, E-Mails und Facebook-Einträgen ein dokufiktionales Stück entstanden, das sich um eine perspektivreiche Beleuchtung bemüht.
Vorurteilsfrei zuhören, wenn es um den Glauben geht
Nicht im Studio, sondern im großen Saal des Heimathafens inszeniert Oder ein bildstarkes, toll beleuchtetes Requiem mit „Ave Maria“-Gesang (Sopranistin: Johanna Morsch). Von der Bühne mit geschlossenem Vorhang fließen schwarze Stoffbahnen in den Raum, die Assoziationen an die Fahnen des IS und an Verhüllungen aller Art erwecken – zuvorderst natürlich an den Nikab. Bühnenbildnerin Franziska Bornkamm hat seitlich auch eine Nähmaschine platziert, die solche Bezüge entsprechend verstärkt. Der Nikab, dieser Gesichtsschleier, der bloß noch die Augen frei lässt, ist ja das Schreckbild schlechthin für alles Negative, von Unterdrückung bis Terror, was man im Westen gemeinhin mit dem Islam zusammen denkt. Nach dem Anfangsaustausch über Glaubensfragen und Vorurteile zwischen Tamer Arslan, Tanya Erartsin und Inka Löwendorf, der einen unaufgeregt-nachdenklichen Ton vorgibt, übernimmt Erartsin die Rolle einer Muslima auf heiligem Kriegspfad. Begonnen im Klassenzimmer, wo sich das Mädchen von der Lehrerin Belehrungen bezüglich ihrer Verschleierung anhören darf: „Mach dich auf Kritik gefasst! Wenn du so etwas trägst, schließt du dich aus unserer Gesellschaft aus, aus dem sozialen Miteinander…“. Übers Internet führt ihr Weg dann recht schnell zu den Gotteskriegern des IS, die das Knowhow für den reibungslosen Grenzübertritt bieten – geografisch und ideologisch.
Sicher, das alles wirkt gelegentlich recht prototypisch verdichtet, was es ja auch ist. Das nimmt „Dschihadista“ aber nicht die Dringlichkeit, die aus realitätsbasierten Abschieds-E-Mails an fassungslose Eltern, aus Chats unter Gleichgesinnten („Ich bin wütend, wie Europa Muslime behandelt. Ich versuche gegen Nichtgläubige aktiv zu werden, aber es ist schwierig“) oder unter Ex-Klassenkameraden spricht („Ich finde es irgendwie mutig von ihr, aber auch voll unheimlich“). Aus all dem spricht der Imperativ, einander vorurteilsfrei zuzuhören, wenn es um den Glauben geht.
Der Abend endet mit einem Fanal, mit der düsteren Phantasie von einem Selbstmordanschlag am Herrmannplatz. Und dem Lied „Die Gedanken sind frei“.
Nächste Vorstellungen: 9., 15. + 16. März, 20 Uhr, weitere im April und Mai