Wird Virtual Reality jetzt Kunst?: Julia Stoschek Collection startet vielversprechende VR-Reihe
Das erste Mal: Der Künstler Bjarne Melgaard experimentiert im Ausstellungshaus in Mitte mit Virtual Reality. Und endlich ist das mal richtig gut.
Man saust wie auf Schienen in diesen Raum, in der Ecke steht ein Bett. Schnell landet man neben dem Glühlampenmann, der am Pult lässig eine Maus hin- und herschiebt, eine riesige Monitorwand vor sich. Betätigt er sich als DJ oder surft er im Dark Web?
Hinter ihm auf dem Boden liegt ein riesiger Krake mit silberschwarzer Haut. Eine Tentakel rollt nach vorn, hält dem Mann eine E-Pfeife an die Lippen, er nimmt einen Zug. Nicht nur die Beats gehen hier ins Blut. Dabei berührt der lange Arm des Kraken fast das eigene Gesicht. Wird er einem ebenfalls die Pfeife reichen?
Das hier ist kein verrückter Berliner Club: Es sind die Räume der Kunstsammlerin Julia Stoschek an der Leipziger Straße. Man sitzt relativ brav auf einem Stuhl, während im Hirn - oder wo eigentlich? - Unglaubliches passiert.
Die Arme des Kraken fahren durch den Mann. Man begleitet die Gestalt durch einen Ozean, strandet mit ihr auf einer Insel, wird von Haien umschwommen und sogar enthauptet.
„My Trip“ heißt der 15-minütige Virtual Reality-Film des norwegischen Künstlers Bjarne Melgaard, der am Freitag in der Julia Stoschek Collection seine Premiere hatte. Melgaard bezieht sich darin auf die Einnahme der halluzinogene Substanz Dimethyltryptamin (DMT), außerdem auf Autoren wie Stig Sæterbakkens und den Antinatalisten David Benatar.
So bleibt er sich treu und legt gleichzeitig eine Reise durch seinen künstlerischen Kosmos vor. Viele Charaktere in dem Film sind aus Melgaards Zeichnungen und Gemälden bekannt. Der „Lightbulb Man“ mit den kreisrunden Löchern im Körper, Octo die Krake, der Reiter mit Pferd.
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Am Ende des Films taucht ein Monster auf, für das Hunderte von Melgaards Figuren zusammengelegt wurden. Begriffe rauschen durch das Universum, die alle möglichen sexuellen Orientierungen anzeigen. Man stirbt und lebt weiter. Der Film will mehr als ein psychedelischer Trip sein, es soll auch darum gehen, für welche Art von Leben wir uns entscheiden.
Viele große Künstler experimentieren mit VR
Melgaard, 1967 geboren, und für seine expressiven Gemälde und Installationen weltweit bekannt, hat sich immer wieder provokativ zu Macht, Sex und queerem Leben geäußert. Er nahm an zahlreichen Biennalen teil, eine Schau in Oslo brachte ihn mit dem Œuvre der norwegischen Malerlegende Edvard Munch zusammen. Er ist einer der Kunst-Superstars, die derzeit auf Einladung der Londoner Firma Acute Art mit VR- Technologie experimentieren.
Das habe er nie zuvor gemacht, sagt er vor der Eröffnung. Genauso wenig wie Marina Abramovic, Anish Kapoor, Jeff Koons oder Ai Weiwei, die sich ebenfalls mithilfe von Acute Art in dem Medium ausprobiert haben.
Der in Berlin lebende Künstler Olafur Eliasson ist an dem Londoner Start-up beteiligt. Der führende Kopf der Firma, Daniel Birnbaum, ehemaliger Rektor der Frankfurter Städelschule in Frankfurt, verließ für Acute Art sogar seinen Direktorenposten am Moderna Museet in Stockholm. Das lässt aufhorchen.
Gemütliche Atmosphäre
Julia Stoschek will künftig regelmäßig mit Acute Art kooperieren, sie hat in ihren Ausstellungsräumen eine VR-Ecke eingerichtet, die für die erste Schau mit rosa Teppich und großem Spiegel ausgestattet ist. Außerdem stehen da drei Hocker, drei VR-Headsets, dicke Computerracks. VR-Technologie ist bisher alles andere als elegant. Die benötigte Rechnerleistung ist riesig. Vermutlich wird man in zehn Jahren genauso über dieses Set-up schmunzeln wie heute über die klobigen frühen Apple-Macintosh-Geräte.
Melgaards Film ist einer der ersten im künstlerischen Feld, die wirklich überzeugen. Bei seiner komplexen Narration, die einem Computerspiel ähnelt, macht das Medium endlich Sinn. Und Melgaard tut gut daran, seine vorhandenen Charaktere zu nutzen.
Die Produktion professioneller VR-Filme ist im Moment noch eine Aufgabe für Spezialisten. Die Designer, die Birnbaum für die Künstlerprojekte an Bord holt, arbeiten für große Filmstudios. Es gibt Experten für jede Kleinigkeit: Bäume, Wasser, Körper. Für Melgaards Fall war auch ein Spezialist für psychedelische Formen dabei.
Der Künstler hatte die Storyboards für seinen Film „My Trip“ zu schreiben und er visualieserte die Moodboards. Kooperationen – mit Musikern, Modemachern, Architekten – sind für Melgaard nicht ungewöhnlich. Dennoch wirken Künstler aus Melgaards Generation, wenn sie erstmals mit VR in Berührung kommen, auch immer ein bisschen als hätten sie zum ersten Mal eine Eisenbahn benutzt. Der Künstler staunt selbst, was aus seiner Kunst alles werden kann.
[Julia Stoschek Collection, Leipziger Str. 60, Mitte, bis 15.12, Sa/S0 12-18 Uhr.]
Ist die Zukunft der Kunst virtuell? Noch sträuben sich die meisten Museen, zumindest in Deutschland, dagegen. Virtuelle Kunst ist zu fehleranfällig und betreuungsintensiv, außerdem immer nur für eine limitierte Anzahl an Menschen zu sehen. Natürlich gibt es solche Arbeiten auch schon per App und Brillen für zu Hause. Künftig könnte es neben VR-Filmen auch virtuelle Gemälde oder Skulpturen geben, per Streamingdienst im Abo. Die Kunst würde demokratisch, sie stünde allen zur Verfügung – für relativ wenig Geld. Und verdienen würden vermutlich wieder die großen Internetkonzerne. Trotzdem aufregend.
Birgit Rieger