Prozess gegen Harvey Weinstein: Jetzt reden die Frauen
Kampf um die Bilder: Im New Yorker Prozess gegen den Ex-Hollywoodmogul Weinstein sagt als erste Zeugin der Anklage die Schauspielerin Annabella Sciorra aus.
Der Pulk der Fotografen bringt sich in Stellung, wenn die Wagen vorfahren. Schaulustige und Securityleute säumen die Straße, Kameras klicken. Aber nein, hier liegt kein roter Teppich, das ist nicht die Oscar-Gala, sondern New York, Centrale Street. Wenn Harvey Weinstein den Südeingang zum Art-Deco-Gebäude des State Supreme Court betritt, herrscht gespannte Aufmerksamkeit.
Am Mittwoch, dem Tag der Eröffnungsplädoyers, kommt der Angeklagte erstmals ohne Rollator. Der 67-Jährige ist nach einer Rückenoperation schlecht zu Fuß, er strauchelt am Ende der Treppe. Sein Publizist Juda Engelmayer stützt ihn, ein anderer Begleiter trägt die Gehhilfe mit den gelben Puffer-Tennisbällen.
Bisher hatte Weinstein die Gehhilfe immer benutzt, jeden Tag seit Eröffnung des Vergewaltigungsprozesses gegen den ehemals mächtigen Filmproduzenten am 6. Januar. Meist war der wackelige, sichtlich gealterte Mann mit dem narbigen, müden Gesicht auf den Treppenstufen ein wenig gestolpert, meist hatte seine hochgewachsene Chefverteidigerin Donna Rotunno ihn untergehakt, die Staranwältin aus Chicago, deren Designer-Outfit – Chanel, Salvatore Ferragamo, Stilettos – ebenso in den Gazetten diskutiert wird wie ihre Kreuzverhörtechnik. Rotunno hat Dutzende wegen sexueller Gewalt angeklagte Männer verteidigt, fast immer erfolgreich. Ihre Gegenspielerin diesmal ist ebenfalls eine Frau: Chefanklägerin Joan Illuzzi-Orbon.
Die Frage, ob er an einen fairen Prozess glaubt, bejaht Harvey Weinstein: „Ich habe gute Anwälte“. Dann verschwindet er mit seiner Entourage im Saal. Die Kameras müssen draußen bleiben, auch Handys dürfen nicht benutzt werden, Richter James Burke achtet streng auf die Einhaltung der Regeln. Schon am zweiten Prozesstag hatte er den Angeklagten harsch zurechtgewiesen, als der auf seinem Mobiltelefon herumtippte: Ob er wirklich riskieren wolle, den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen? Worauf die Verteidigung die Absetzung des Richters beantragte, wegen „voreingenommener und aufrührerischer Kommentare“. Ein Vorgeschmack auf Stil und Ton des für gut zwei Monate veranschlagten Verfahrens.
Während die US-Sender das Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump live übertragen, ist die Öffentlichkeit beim Weinstein-Prozess nur zeitversetzt dabei. Die Medienvertreter berichten draußen vor der Tür. Der Sender Court TV lässt Abschriften der Plädoyers, Zeugenaussagen und Wortwechsel von Schauspielern verlesen, zeigt Fotos der Protagonisten dazu und kolorierte Zeichnungen vom Geschehen im Saal. Ein Re-Enactment: Man ist fast live dabei.
Zum Beispiel, als die stellvertretende Staatsanwältin Meghan Hast bei ihrer Powerpointpräsentation auf Weinstein zeigt. „Dieser Mann hier war nicht nur ein Titan in Hollywood. Er war ein Vergewaltiger, der Frauen sexuell missbraucht hat, wenn sie sich weigerten, sich seinen Wünschen zu fügen, und der dann seine Macht nutzte, damit sie schweigen. Endlich werden ihre Stimmen gehört.“
Ja, es geht um Vergewaltigung. Um sexuelle Gewalt in zwei konkreten Fällen. Im Frühjahr 2013 soll Weinstein die Schauspiel-Aspirantin Jessica Mann in einem Hotel in der Lexington Avenue vergewaltigt haben, der Name der Klägerin wurde am Mittwoch bekannt. 2006 soll der 135-Kilo-Mann außerdem die zierliche Mimi Haleyi, Produktionsassistentin bei der Weinstein Company, zum Oralverkehr gezwungen haben.
Auf dem großen Monitor neben der Richterbank zeigt Meghan Hast den Geschworenen Fotos der Klägerinnen, der mutmaßlichen Tatorte und vier weiterer Frauen, die im Zeugenstand aussagen werden, darunter die „Sopranos“-Schauspielerin Annabella Sciorra. Hast wird konkret, schildert minutiös, was Sciorra 1993 widerfahren sein soll. Ein Treffen in einer Bar in Lower Manhattan, Weinstein stellt ihr einen Wagen für die Heimfahrt zur Verfügung. Als Sciorra, schon im Nachthemd, zu Bett gehen will, klingelt Weinstein, verschafft sich Zugang in ihre Wohnung. Am Donnerstag steht Sciorra dann persönlich im Zeugenstand, erzählt, wie sie ihn bat zu gehen,. Ich habe ihn geschlagen und getreten und versucht, ihn von mir wegzubekommen.“ Aber er habe sie vergewaltigt, sie danach bedroht.
Keine Besetzungscouch also im Firmenbüro, keine „Gefälligkeit“ mit Karriereversprechen beim Geschäftstreffen oder im Hotelzimmer, sondern brutale Gewalt im Schutzraum der eigenen vier Wände. Sciorra war traumatisiert, sie berichtet, wie sie zu trinken anfing und sich Schnittverletzungen zufügte.
Der Fall ist verjährt, die Anklage stellt ihn dennoch zu Beginn ihrer Plädoyers. Sie will ein Muster nachzeichnen, das Porträt eines Wiederholungstäters. In diesem Prozess geht es um Bilder, um die Macht der Bilder im Kopf. Um Frauen, die auf ein halbwegs normales Weiterleben hofften, weshalb sie die Bilder verdrängten und schwiegen. Um einen gebrechlichen Mann, der sich selber als Opfer sieht. Um Beweise und Gegenbeweise, ob die Bilder Realität zeigen oder Fiktion.
Weinstein und seine Anwälte sagen, der Sex sei in allen Fällen einvernehmlich gewesen. Donna Rotunnos Kanzleipartner Damon Cheronis verwahrt sich zudem gegen womöglich manipulative Bildern, etwa wenn Meghan Hast pünktlich zum Auftakt des Trump-Impeachments ein Foto von Weinstein mit Bill Clinton zeigt, der sich ebenfalls einem Impeachment stellen musste, wegen einer Affäre. Gegenrede: Das Foto zeige die Machtnähe, mit der Weinstein bei den Opfern für sich warb.
Cheronis führt auch Texte ins Fild, zitiert eine Mail von Jessica Mann vom September 2013: „Du fehlst mir, großer Kerl“. Und vom Februar 2017: „Ich liebe dich ... aber ich hasse es, mich wie ein booty call zu fühlen“ – wie ein Telefondate für schnellen Sex. Schon am Vortag hatte Cheronis angekündigt, die Verteidigung werde mit „Dutzenden und Dutzenden und Dutzenden“ von Mails und Textnachrichten beweisen, dass es sich um Liebesbeziehungen gehandelt habe.
Zum Kampf um die Bilder gesellt sich der Kampf um die Worte, auch Sprache hat Macht. „Sexual predator“, der Begriff für Sexualstraftäter, weckt Monster-Assoziationen: ein Raubtier, gierig nach Beute.
Aufstieg und Fall eines Tycoons. Als der Skandal im Oktober 2017 durch Reportagen in der „New York Times“ und von Woody Allens Sohn Ronan Farrow im „New Yorker“ publik wurde, löste das die weltweite MeToo-Bewegung aus. Über 80 Frauen, darunter Salma Hayek und Angelina Jolie, erhoben schwere Vorwürfe gegen Weinstein, bei dem Meryl Streep sich noch während der Oscar-Gala 2012 bedankt hatte, bei „Gott“ persönlich. Mit seiner Firma Miramax und später der Weinstein Company war Weinstein der Gottvater des Independentkinos. Mit Filmen wie „Der englische Patient“, „Sex, Lies and Videotapes“ oder „Pulp Fiction“ hatte er die Branche revolutioniert und zahlreiche Karrieren befördert. 34 Mal soll ihm von Oscar-Gewinnern gedankt worden sein, rekordverdächtig.
Auch gegen andere wurden MeToo-Anschuldigungen laut, von Frauen wie von männlichen Opfern. Auf der Liste stehen seit 2017 über 200 prominente Männer aus Kultur, Entertainment, Medien und Politik, von Kevin Spacey über James Levine bis Placido Domingo; längst bekannte Fälle wie die von Roman Polanski und Woody Allen rückten neu in den Fokus. Zur Anklage kam es so gut wie nie, wegen Verjährung, mangels Beweise oder weil mutmaßliche Opfer nicht aussagen wollten. Ein Prozess ist auch für die Opfer ein meist demütigender, knallharter Zirkus. Gerechtigkeit und Recht sind nicht dasselbe.
Wobei die Folgen für die Beschuldigten auch so oft einer Strafe gleichkommen: die Reputation zerstört, die Karriere beendet, die Firma bankrott, das Privatvermögen perdu. Auch das Werk ist affiziert: Bilder wurden abgehängt, Konzerte und Retrospektiven abgesagt. In Deutschland trat Regisseur Dieter Wedel als Intendant der Bad Hersfelder Festspiele zurück, die Ermittlungen laufen noch. WDR-Fernsehfilmchef Gebhard Henke verlor seinen Job, wegen angeblicher sexueller Belästigung und „unangemessenem Verhalten“.
Vor Gericht standen und stehen lediglich Täter, gegen die bereits vor den Weinstein-Veröffentlichungen ermittelt wurde. Der Comedian Bill Cosby sitzt seit September 2018 in Haft, der Rapper R Kelly wurde letzten Juli erneut festgenommen, es geht um den Missbrauch von Minderjährigen in 13 Fällen. Das Urteil gegen den Pianisten und früheren Präsidenten der Münchner Musikhochschule, Siegfried Mauser, wegen mehrfacher sexueller Nötigung ist seit Oktober rechtskräftig.
Auch deshalb wird das Weinstein-Verfahren gern zum Prozess des Jahrhunderts erklärt, ähnlich wie der gegen den Footballstar O. J. Simpson vor 25 Jahren. Viele wollen wenigstens einen dieser Männer hinter Gittern sehen. Aber in New York geht es nicht um die Machos der Welt, die Grapscher, aggressive Chefs oder den Täter an sich. Es geht um eine Person und was ihr nachgewiesen werden kann.
Ob der Prozess – ein weiterer ist in L.A. anhängig – nun mit Freispruch oder lebenslänglich endet: MeToo hat die Kultur des Umgangs von Männern und Frauen verändert. Zumindest die Sensibilität für Machostrukturen und Machtmissbrauch, auch in weniger glamourösen Betrieben. Wobei das „toxisch perverse System“, wie die Schauspielerin Jasmin Tabatabai es genannt hat, nicht über Nacht verschwindet. Trotz „Time’s Up“-, „Nobody’s Doll“- und Quotenkampagnen: Das Geld und die Macht sind nach wie vor nicht gleich verteilt. Auch um die Frauenbilder im Kino oder Oscars und Palmen für Regisseurinnen ist es weiterhin schlecht bestellt.
Das Pendel schlage nun zu sehr in die Gegenrichtung aus, hatte Catherine Deneuve 2018 vor dem Missbrauch des Missbrauchs gewarnt. Richter Burke appelliert an die Geschworenen: „Dies ist kein Referendum über die MeToo-Bewegung oder über Frauenrechte.“ Schon deshalb dauerte es zwei Wochen, bis unter 600 Kandidaten eine zwölfköpfige Jury gefunden war. Das Internet und die Medien sind voll mit dem Thema, wer ist da unbefangen?
Als der Angeklagte am Mittwoch das Gericht verlässt, lacht er in die Kameras. Tags darauf nimmt seine Chefverteidigerin Annabella Sciorra ins Kreuzverhör – um ihr zu entlocken, dass Harvey Weinstein sie in ihrer Wohnung anfangs noch freundlich zum Sex überreden wollte.