Karin Graf zum Start der Lit:potsdam: „Jeder Künstler braucht Feedback“
Die Lit:potsdam findet statt – und zwar ganz analog. Die Künstlerische Leiterin Karin Graf über das Programm und Literatur in Ausnahmezeiten.
Frau Graf, am Dienstag beginnt Lit:potsdam. Das Motto lautet „Ausnahmezeit – Verstand und Gefühl“. Ein Appell, in Zeiten wie diesen kühlen Kopf zu bewahren?
Mit unserem Programm wollen wir Probleme weder aufbauschen noch kleinreden. Aber wir haben in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmezeit. An die sollte man ruhig und gelassen herangehen und sie sowohl mit Verstand als auch mit Empathie betrachten. Das ist nämlich das, was gute Literatur auszeichnet. Und es ist wichtig, auch in Ausnahmezeiten Literaturfestivals zu machen. Zu zeigen: Literatur ist Lebensmittel. Insofern ist es ein Appell, ja.
Als Sie im März ankündigten, trotz Pandemie ein analoges Festival machen zu wollen, ruderten andere gerade eher zurück. Woher kam die Zuversicht?
Wir wussten ja, dass es Sommer wird. Und wir spielen keine Instrumente, singen nicht, die Menschen auf der Bühne kommen sich nicht so nah bei einem Literaturfestival, können Abstand halten. Wir wussten, dass wir es Open Air machen und nicht in geschlossene Räume gehen wollen. Und wir haben auf ausländische Autoren verzichtet, wissend, dass man auf die Reisebedingungen keinen Einfluss nehmen kann. Wir hatten vom letzten Jahr noch die Zusage von Julian Barnes, der auch dieses Jahr sehr gerne gekommen wäre. Davon haben wir dann Abstand genommen – und siehe da: Jetzt darf man gar nicht mehr aus England einreisen ohne 15 Tage Quarantäne.
Es gibt erstmals keinen Writer in Residence. Was ist in diesem pandemischen Jahr noch anders als sonst? Das Programm wirkt prall gefüllt, inhaltlich fast wie immer.
Anders ist, dass wir hinterher keine großen Get-togethers machen können. Anders ist, dass wir die Zahl der Zuschauer bei manchen Veranstaltungen vorläufig begrenzen müssen, die Tickets waren ganz schnell ausverkauft. Es sind schon sehr viele Einschränkungen. Wir haben unsere Gäste sonst auch immer sehr gern durch die Stadt geführt, ein Touristenprogramm absolviert. Und natürlich müssen alle Teilnehmenden gesundet, geimpft oder getestet sein. Die drei großen Gs stehen über allem.
Sie führen auch zum ersten Mal vorab eine Fachkonferenz durch.
Wir hatten schon Sonderprogramme zu Gedenkjahren, beispielsweise zu Luther oder Fontane. In diesem Jahr haben wir gesagt: Gerade, weil es ein Ausnahmejahr ist und alle so still verharren, wagen wir den Blick in die Zukunft. Auf das, was auf uns als Branche zukommt. Wie wird heute geschrieben, wie wird publiziert, wie vertrieben? Das bewegt alle, die in der schreibenden Zunft arbeiten. Bei der Tagung gibt es zu jedem Thema Rede und Gegenrede. Die EU, für die Digitalisierung eine große Rolle spielt, hat diese Fachtagung gefördert, ebenso das Bundesprogramm Neustart Kultur.
Wie gehen Sie als Kuratorin bei der Auswahl vor?
Es geht zunächst um Themen, um die Dramaturgie. Das Schöne an Lit:potsdam ist, dass es nicht darum geht, wer gerade auf Lesereise ist und Potsdam noch in seine Tournee einbauen kann. Oder wer ganz oben auf der Bestsellerliste steht. Wir schlagen gern einen Bogen: Wir fangen mit zwei Debütantinnen an, Sharon Dodua Otoo und Mithu Sanyal – und enden mit Helga Schubert und Bernhard Schlink, zwei Autor:innen, die zurückschauen. In der Mitte haben wir immer ein Sachbuchthema, diesmal sogar mit zwei Veranstaltungen. Einmal geht es um Umwelt- und Klimaschutz, der durch die Pandemie besonders in den Vordergrund gerückt ist, einmal um das Thema Klassismus.
Wie hat die Pandemie aus Ihrer Sicht als Agentin den Autor:innen zugesetzt? Es gibt ja das Klischee vom Leidensdruck, der die Kreativität erhöht.
Sprechen wir von Kreativität in quantitativer oder qualitativer Hinsicht?
Qualitativ, idealerweise.
Quantitativ muss man sagen: Es wurde sehr viel geschrieben. Wir bekommen sehr viele unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Verlage auch, denke ich. Qualitativ hat sich nichts geändert.
Beim Festivalauftakt 2020 sagte die Berliner Autorin Lea Streisand über die Pandemie: Noch sind die Leute wütend, die Depression kommt später. Was beobachten Sie, ein Jahr später?
In der veröffentlichten Literatur selbst kommt die Wut noch nicht zum Ausdruck. Im nächsten Jahr könnte es vielleicht ein Thema sein. Ob die Leute deprimiert sind, vermag ich nicht zu sagen. Es gibt Autoren, die betätigen sich politisch und äußern ihre Meinung. Andere tun es nicht. Ich selber murre, halte mich aber brav an alles. Und ich denke, das gilt auch für das Gros der Leute, auch der Künstler. Oder wie sehen Sie das?
[ Lit:potsdam, 1. bis 6. Juni. Das vollständige Programm sowie Restkarten sind unter www.litpotsdam.de abrufbar.]
Ich kenne nicht so viele Literaten wie Sie.
Den Autoren fehlt natürlich der Resonanzraum für ihr Schaffen. Sie schreiben, werden veröffentlicht, die Bücher werden verkauft. Aber sie haben keine Auftrittsmöglichkeiten mehr, keinen Kontakt mit den Lesenden, reden nicht mehr mit den Buchhändlern. Das fehlt ihnen natürlich. Abgesehen von dem Geld, was er oder sie damit verdient: Jeder Künstler braucht Feedback.
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Ist das der Impuls dahinter, Lit:potsdam gerade jetzt analog durchzukämpfen?
Wir fanden es einfach langweilig, das virtuell zu machen. Der Impuls war, zu zeigen, dass Literatur wichtig ist und den Diskurs mitbestimmt, den lebendigen Austausch zu fördern. Nicht einen, wo man sich melden muss, dann drankommt und in eine Kamera spricht. Sondern einen, wo man live reagieren kann und interagiert.
Vor einem Jahr sagten Sie, dass auch Verleger und Agenten aktiver werden könnten – etwas mit „Wumms“ machen. Ist Lit:potsdam Ihr Wumms gegen die Pandemie?
Ja, vielleicht. Dazu gehören ja nicht nur Sabine Haack mit ihrem Büro und ich und in diesem Jahr die Agentur Werkside und Martin Klein mit dem Kinder- und Jugendprogramm. Sondern wir haben auch einen Vereinsvorstand, der sehr solidarisch und aktiv unterstützt und uns immer wieder ermuntert hat, dran zu bleiben.
Der Verein verleiht Ihnen auch Zugang zu den „schönen Orten“, mit denen das Festival wirbt. Das sind teilweise private Häuser wie die Villa Jacobs.
Zum Teil, ja. Wir sind aber auch wieder in der Villa Quandt, in der Schiffbauergasse, im Hof des Museums Barberini, in der Villa Schöningen.
Was nach acht Ausgaben Lit:potsdam bislang noch fehlt: eine Frau als Writer in Residence.
Wir haben mit Eva Menasse erstmals eine Frau, die die Festveranstaltung in der Villa Jacobs bestreitet. Und ich möchte betonen, dass wir 50 Prozent Frauenbeteiligung im Programm haben. Aber es stimmt schon, man kann Dinge immer mal anders machen. Jetzt haben wir das erste Mal eine Konferenz veranstaltet. Wir probieren jedes Jahr etwas Neues aus. Es ist nicht alles gesetzt.
Lena Schneider
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