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Robin Ticciati , 1983 in London geboren, ist seit Herbst 2017 Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin.
© Camille Blake/DSO

Robin Ticciati über das DSO: „Jede Saison soll ein Gesamtkunstwerk sein“

Robert Ticciati ist Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters. Ein Gespräch über die Arbeit mit jungen Sängern und seine Pläne für die Zukunft.

Herr Ticciati, Sie proben gerade für Ihr erstes Projekt mit Studierenden der Eisler-Musikhochschule. Warum haben Sie dafür ausgerechnet Benjamin Brittens Antikendrama „Die Schändung der Lucretia“ ausgewählt?
Weil es ein Meisterwerk ist! Weil es ein perfektes Stück ist für Stimmen, die sich noch entwickeln. Weil es ein Werk des 20. Jahrhunderts ist, uraufgeführt 1946 beim Glyndebourne- Festival, dessen Partitur aber nicht so herausfordernd für die Interpreten ist wie viele zeitgenössische Opern.

Außerdem erlaubt es mir, mit den jungen Sängerinnen und Sängern eng am Text zu arbeiten, da es in meiner Muttersprache geschrieben wurde. Und es ist mir wichtig, unsere Ferenc-Fricsay-Akademie einzubinden, also unser orchestereigenes Nachwuchsförderprogramm. Darum brauchen wir diese Kammeroper.

Dennoch, die Handlung ist grässlich: In einer militärischen Herrenrunde im antiken Rom wird über die Ehre der Frauen diskutiert, woraufhin einer der Generäle beschließt, die Gattin seines Kollegen zu verführen. Als es ihm nicht gelingt, vergewaltigt er sie, und sie begeht Selbstmord. Was kann daran einen Interpreten reizen?
Das Werk hat uns eine Menge für unser gesellschaftliches Zusammenleben zu sagen. Wir müssen nur den richtigen Zugang finden. Mein Hauptziel bei diesem Projekt ist nicht unbedingt die Aufführung selbst, sondern es geht um den Prozess.

Die Studierenden sollen lernen, wie sie sich ihre Rollen künstlerisch erschließen können. Wir realisieren keine wirkliche Inszenierung, aber ich erkläre den jungen Leuten, dass es trotzdem darauf ankommt, sich für jede Szene, ja für jeden Satz genau klarzumachen, was sie gerade singen.

Sie müssen die Tragödie über ihre Stimmen transportieren. Gerade bei einem durchaus problematischen Libretto ist das eine hervorragende Übung.

Auch wenn Sie „The Rape of Lucretia“ für ein Meisterwerk halten - es ist ein ziemlich unbekanntes…
Das ist ja das Gute daran. Weil die Oper selten gespielt wird, sind die Teilnehmer unvoreingenommen, kommen ohne festgefahrene Vorstellungen über das Werk zu den Proben. Wir haben schon im November mit der Arbeit begonnen, und ich genieße jede Sekunde, die ich mit diesen tollen jungen Leuten arbeite.

Im Leben eines jeden Künstlers kommt der Moment, wo er spürt, dass jetzt die Zeit ist, sein Wissen weiterzugeben. Für mich ist das über die letzten Jahre eine echte Leidenschaft geworden.

Vom Alter her könnten Sie als großer Bruder der Teilnehmer durchgehen.
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich fühle mich vor allem als jemand, der sie führt auf ihrem Weg. Für die Studierenden ist es kein Seminar, bei dem ihre Professoren dabei sind, sondern ein echter, bezahlter Job beim DSO. Das war mir wichtig.

Ich verlange von ihnen auch dasselbe, was ich von fertigen Profis verlangen würde. Ich will ihr Bewusstsein für die Möglichkeiten schärfen, die ihnen die Partitur bietet. Immer wieder stelle ich ihnen darum die Frage: Was sagst du da gerade? Was bedeutet dein Text? Gerade als Anfänger denkt man fast immer zuerst an die Technik, aber wir wollen einen Schritt weitergehen.

Indem wir uns klarmachen, wie die Darsteller interagieren, wie nahe sie sich kommen, wie ihre gefühlte innere Temperatur ist, wie schnell ihr Puls gerade schlägt.

Vier Tage nach Ihnen stellt Kirill Petrenko, der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, sein erstes Projekt mit Gesangsstudenten vor. Er hat Puccinis „Suor Angelica“ gewählt und realisiert eine szenische Produktion. Ist das eine Konkurrenz für Sie?
Im Gegenteil: Ich war sehr angetan davon. Es freut mich, dass auch Kirill sein Wissen an die nächste Generation weitergeben will. Wobei wir ja auch viel zurückbekommen von den jungen Sängerinnen und Sängern: ihre wunderbare Energie nämlich.

Wunderbar waren übrigens auch die Erfahrungen, die ich bei meinen Schulbesuchen im Rahmen unseres Kammermusikprojekts, das ein Teil Musikvermittlungsarbeit des DSO ist, gemacht habe. Ich konnte tolle Proben miterleben und mit den Schülerinnen und Schülern intensiv über die Kompositionen sprechen.

In den ersten beiden Spielzeiten mit dem DSO wollten Sie so vielseitig wie möglich sein. Worauf fokussieren Sie sich künftig?
Wir haben in der Tat Unterschiedlichstes ausprobiert, von der Arbeit mit Barockbögen und Darmsaiten bis hin zur freien Improvisation auf der Bühne – und wir haben festgestellt, dass wir viel davon weiterentwickeln wollen. Ein Ziel dabei ist, die Flexibilität der Musikerinnen und Musiker zu verfeinern, sodass sie sich zwischen den Epochen und Stilen bewegen können.

Wer sucht die Dirigenten für jene Konzerte aus, die Sie nicht selber dirigieren?
Das mache ich mit unserem Orchesterdirektor Alexander Steinbeis und nach Rücksprache mit dem Orchestervorstand, also den Musiker-Vertretern. Ich möchte, dass mein Orchester mit den allerbesten Künstlern zusammenarbeitet.

Ich bin darum immer auf der Suche nach spannenden Kolleginnen und Kollegen, die jünger sind als ich. Das gehört zu meinen wichtigsten Aufgaben als künstlerischer Leiter. Wenn ich mich nur auf meine Programme beschränken würde, bliebe meine Arbeit hier Fragment. Jede Saison soll ein Gesamtkunstwerk sein.

Wie sieht's mit Dirigentinnen aus?
Bei der Auswahl der Interpretinnen und Interpreten geht es natürlich immer um die Musik und nicht ums Geschlecht. Aber gar keine Frage: Wir wollen mehr Dirigentinnen aufs Podium bringen.

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