Retrospektive in der Berlinischen Galerie: Jeanne Mammen - die Unerschütterliche
Jeanne Mammen fühlte sich anfangs nicht willkommen in dieser Stadt – dennoch blieb sie ihr ein langes Künstlerinnenleben treu
Missmutig blickt sie den Betrachter an, Schmollmund, ganz in Schwarz, hängende Arme, die Hände verschränkt – der rote Mund ist der einzige Farbtupfer auf diesem seltenen Selbstporträt von Jeanne Mammen (1890–1976) aus dem Jahre 1926. Es entstand auf einer Reise mit ihrer Schwester Mimi an die belgische Nordseeküste. „Ich habe immer gesagt, ich möchte eine Mönchskutte haben und mit der ins Theater gehen.“ Eigentlich hatte sie keinen Grund zur Traurigkeit, denn nach vielen Mühen hatte sie es zu dieser Zeit geschafft. Sie konnte von ihren Zeichnungen und Aquarellen über das Berliner Großstadtleben gut leben. Vor allem diese Phase ihres Schaffens wird heute mit ihrem Namen verbunden.
Jeanne Mammen, die eigentlich Gertrud Johanna Louise Mammen heißt, wurde 1890 in eine gut situierte bürgerliche Familie in Berlin geboren. Der Vater besaß eine Schriftgießerei, die er 1901 verkaufte, um wieder nach Paris zurückzukehren, wo er Teilhaber einer florierenden Glasbläserei wurde. Jeanne und ihre Lieblingsschwester Mimi besuchten ein Gymnasium, in dem sie eine umfassende musische und naturwissenschaftliche Bildung erhielten.
Kunst spielte in dieser kosmopolitischen Familie eine große Rolle, und so lag es auf der Hand, dass die beiden Schwestern an der Pariser Académie Julian eine zweijährige Kunstausbildung genossen. Ein weiteres Studium an der Académie des Beaux Arts in Brüssel folgte. „Man war den ganzen Tag auf den Beinen: morgens malen, abends zeichnen, nachmittags malen, dazu die ganzen Kurse“, schrieb Mammen. Mit 18 Jahren gewann sie einen Preis und verblüffte ihre männlichen Kollegen damit, „daß eine kleine Demoiselle von 18 Jahren eine Lage schmiß“.
An Selbstbewusstsein fehlte es ihr nicht. Die beiden Schwestern setzen ihre Studien in Rom fort, um dann ab 1912 in Paris und Brüssel frei zu arbeiten – für Frauen jener Zeit eine eher ungewöhnliche Karriere. Es sind vor allem symbolistische Illustrationen, die Mammen anfertigt, in die sich aber schon Sozialkritik einschleicht.
Der Erste Weltkrieg machte all ihre schönen Pläne zunichte. Jeanne Mammen und ihre Familie galten als feindliche Ausländer, das Vermögen des Vaters wurde beschlagnahmt. Über Brüssel flohen sie in die Niederlande. Die Mammens fanden später in der Berliner Motzstraße eine Wohnung. 1915 folgte Jeanne den Eltern in dieses ihr fremd gewordene Land: „Ich kannte keinen Menschen, ich hab geheult wie ein Schlosshund, so scheußlich fand ich es in Deutschland. Ich sprach doch nur französisch und hatte Schwierigkeiten, mich auszudrücken“, erinnert sie sich später an diese harten Jahre während des Krieges. Der französischen Kultur und Literatur blieb sie zeit ihres Lebens treu, sie waren so etwas wie ein Rettungsanker in auch später schwierigen Zeiten.
1920 bezog sie mit Mimi ein Wohnatelier am Kurfürstendamm im 4. Obergeschoss des Gartenhauses, das ihr Lebensmittelpunkt bis zum Ende bleiben sollte. In den zwanziger Jahren entstanden ihre Zeichnungen und Grafiken für angesehene Zeitschriften, für die sie heute bekannt ist. 1930 bekam sie ihre erste Einzelausstellung in der Galerie Gurlitt. Mit dem Ingenieur und späteren Bildhauer Hans Uhlmann, der ein treuer Freund wurde, reiste sie 1932 nach Moskau und sympathisierte mit dem Sozialismus.
Mit der Machtübernahme der Nazis verlor sie ihre Lebensgrundlage
Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere traf sie der zweite schwere Schicksalsschlag in ihrem Leben – mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verlor sie ihre Lebensgrundlage, die Zeitschriften, die ihre Arbeiten druckten, wurden entweder eingestellt oder gleichgeschaltet. Ihr wird „arischer Ungeist“ vorgeworfen. Ihr Freund Uhlmann wird verhaftet und bis 1935 in Tegel eingesperrt. Sie versorgt ihn dort mit französischer Literatur. Jetzt zieht sie mit einem Handkarren durch die Ku’damm-Seitenstraßen und bietet antiquarische Bücher an sowie Grafiken, die ihr die Galerien Gurlitt und Nierendorf stifteten. Über den Naturwissenschaftler Kurt Wohl lernt sie bei Hauskonzerten Max Delbrück und Erich Kuby kennen, den späteren „Stern“-Journalisten. Die beiden wurden auch ihre ersten Sammler.
Zur Tarnung lässt sich die Nazi-Gegnerin in der Reichskammer der bildenden Künste registrieren: „Eine Frau als Gebrauchsgrafikerin macht Blümchen“, schreibt sie. Mammen beschäftigt sich jetzt heimlich mit Kubismus und Futurismus, also mit all dem, was nun als „entartet“ gilt. 1937 sieht sie auf der Weltausstellung in Paris Picassos „Guernica“ und ist tief beeindruckt. Sie schlägt sich als Schaufensterdekorateurin durch und lässt sich als „Feuerwehrmann“ ausbilden, um nach der Entwarnung Brandwache zu schieben. Aber in ihrem Atelier am Kurfürstendamm wehrt sie sich mit immer abstrakteren Bildern, die nur ihre Freunde zu sehen bekommen, gegen den Ungeist der Zeit.
Mammen überlebt nach 1945 mithilfe von Care-Paketen und experimentiert nun mit Gips und ungebranntem Ton. Sie erhält wieder Illustrationsaufträge und bekommt 1947 in der Galerie Rosen ihre erste Einzelausstellung nach Kriegsende. 1960 widmet ihr die Akademie der Künste zu ihrem 70. Geburtstag eine Ausstellung. Die Teilung der Stadt hat sie getroffen, aber nicht vertrieben. Jetzt klebt sie glänzende Bonbonpapiere in ihre Bilder – „die Farben aus der Tube kamen mir dreckig vor“. Sie bleibt der französischen Literatur treu und übersetzt weitere Texte, reist nach Marokko und 1973 zu Picassos letzter Ausstellung im Papstpalast von Avignon. „Da ich nicht mehr saufen noch rauchen kann war der sogenannte Geburtstag recht popelich“, schreibt sie 1975 zu ihrem 85. Geburtstag.
Ihr letztes Bild heißt „Verheißung eines Winters“, ein halbes Jahr später stirbt sie am 22. April 1976. Zwei Kriege haben ihre Lebensplanung durchkreuzt, aber Jeanne Mammen ließ sich dadurch nicht erschüttern und blieb ihrer Kunst und ihrem kritischen Blick auf die Gesellschaft treu.
Jeanne Mammen – Die Beobachterin. Retrospektive 1910–1975. Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin. 6. Oktober bis 15. Januar 2018. Mittwoch bis Montag 10 bis 18 Uhr, Dienstag geschlossen. Eintritt: acht Euro, ermäßigt fünf Euro.
Zur Ausstellung werden unentgeltliche Führungen durch die Kuratorinnen angeboten sowie Workshops für Kinder über den Verein Jugend im Museum e. V.
Weiteres im Internet: berlinischegalerie.de
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