Neuer Roman von Arundhati Roy: Indien, meine Liebe, mein Albtraum
Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin: Arundhati Roys neuer Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“.
Sie müssten überall sein. Auf Straßen und Plätzen, in Hinterhöfen und Vorgärten. Bei jedem Schritt sollten Menschen über ihre Körper stolpern, die aus dem Himmel und von den Bäumen fallen. Tote Vögel. Die Lider geschlossen, die Flügel gefaltet, die Krallen verkrampft. Einst Herrscher der Lüfte, nun dem Erdenstaub anheimgegeben. Und obwohl sie täglich zu Tausenden sterben, sind kaum jemals welche zu sehen.
„Wohin fliegen alte Vögel, um zu sterben? Warum fallen tote Vögel nicht wie Steine vom Himmel?“ Mit dieser bereits im letzten Kapitel des Romans „Der Gott der kleinen Dinge“ vergeblich gestellten Frage, beginnt nun das erste Kapitel von „Das Ministerium des äußersten Glücks“. Obwohl die Schriftstellerin Arundhati Roy, die im Bewusstsein der westlichen Welt so etwas wie das moralische Gewissen von einer Milliarde Indern ist, zwanzig Jahre zwischen dem ersten und zweiten Roman hat verstreichen lassen, ist die Dringlichkeit, mit der sie fragt, kein bisschen geringer geworden. Ebenso wenig der Mut, diese Kinderfrage mit den großen Themen der indischen Gesellschaft zu kombinieren. In einem Buch. Und in einem Leben. Das ist bei dieser Autorin schwer zu trennen. Nicht nur weil ihr 1997 mit dem Booker-Prize ausgezeichnetes und zum Weltbestseller avanciertes Debüt, die in Südindien spielende Geschichte einer christlichen Familie, halbautobiografische Züge trug. Sondern auch weil die 1961 geborene Autorin, die in Kerala aufwuchs und als Jugendliche nach Delhi zog, seither als nimmermüde Menschenrechtsaktivistin und flammende politische Essayistin und Sachbuchautorin unterwegs war.
Wofür und wogegen hat die studierte Architektin nicht alles gekämpft, sich einsperren und schmähen lassen und dafür auch die Gewinne aus dem „Gott der kleinen Dinge“ eingesetzt. Gegen Hindu-Nationalismus, was sie zur Lieblingsfeindin der Regierungspartei BJP macht. Für indische Maoisten, mit denen sie im Dschungel gelebt hat. Gegen die Vertreibung der Landbevölkerung durch den Bau des Narmada-Staudamms in Gujarat. Für den Whistleblower Edward Snowden, den sie in Moskau besuchte. Gegen Polizeiwillkür, gegen Umweltzerstörung, gegen das nach wie vor den Alltag prägende Kastensystem, für die Rechte von religiösen Minderheiten wie Muslime und Christen. Und immer wieder gegen die Gewalt im von Indien kontrollierten Kaschmir. Dass ihre beiden Romane nur fertig wurden, weil beim ersten der Autorenkollege Pankaj Mishra und beim zweiten der im Januar verstorbene John Berger drängten, glaubt man gerne. Diese Frau will nicht nur Geschichten erzählen, nein, sie hat Welten zu retten, wobei im „Ministerium des äußersten Glücks“ das eine immer wieder identisch mit dem anderen ist.
Ein Stilkaleidoskop aus Akten, Notizen, Berichten, Gedichten
Knapp 600 Seiten umfasst die dem Subkontinent Indien an Komplexität nicht nachstehende Geschichte. Und noch bevor sie beginnt, zeigt Arundhati Roy in einem Prolog, dass sie die Tonlage des magischen Realismus ebenso wie die des sachlichen Journalismus beherrscht. „In der magischen Stunde, wenn die Sonne fort, das Licht noch da ist, lösen sich Heere fliegender Hunde von den Banyanbäumen auf dem alten Friedhof und lassen sich über der Stadt treiben wie Rauch“, heißt es da. Auf dieses schöne, atmosphärische Bild folgt einige Zeilen weiter bittere Nüchternheit, als es um tote Vögel geht. „Die Geier starben an Diclofenac-Vergiftung. Diclofenac, Rinder- Aspirin, das den Kühen verabreicht wird, um die Muskeln zu entspannen, Schmerzen zu lindern und die Milchproduktion zu erhöhen, wirkt – wirkte – wie Nervengas auf die Weißrückengeier.“ Diese Eingangsminiatur lässt bereits aufeinanderprallen, was der Roman als Ganzes stilistisch und inhaltlich entfaltet. Nur geht ihrem Stilkaleidoskop aus Akten, Notizen, Berichten und Gedichten irgendwann zwischen Seite 180 und 220 die Luft aus – als einen Arundhati Roy über allzu viele Seiten raten lässt, wer wohl der jäh hinzutretende Ich-Erzähler sein mag. Auf Seite 224 bekommt er endlich einen Namen und eine Identität: Biplab Dasgupta ist ein hoher Beamter des Nachrichtendienstes.
Roy lüftet den Vorhang ihres indischen Welttheaters nur Stück um Stück. Und trägt dann auf den letzten hundert Seiten der Geschichte von Anjum und Tilo getreulich jedes lose Ende nach. Sodass das, was zunächst nach scharfkantigen biografischen Splittern aussieht, sich am Ende doch zu einer märchenhaften, ein wenig kitschigen Utopie rundet. Der Traum von der Insel der Solidarischen in einer dem Kapitalismus, der Globalisierung, der Gewalt und der politischen und religiösen Verblendung anheimgefallenen Welt – vor allem, aber nicht nur in Indien.
Hijras heißen die Angehörigen des dritten Geschlechts
Anjum ist eine Hijra, eine Angehörige des „dritten Geschlechts“, nicht nur Mann, nicht nur Frau, sondern irgendwas dazwischen. Sie lebt in Delhi wie Hijras in Indien leben, außerhalb der Familien, in eigenen Gemeinschaften, wo sie den Lebensunterhalt durch sexuelle Dienstleistungen und Betteln verdienen. Als ihre Wohngemeinschaft sich auflöst, zieht Anjum auf einen verfallenen muslimischen Friedhof. Nach und nach überbaut die so wunderliche wie warmherzige Diva die Gräber mit den Zimmern ihres Jannat-Gästehauses und schart eine Truppe Verlorener um sich.
Die Schicksale dieser schrägen, so herzlich wie komisch erzählten Wahlverwandten, sind nichts gegen die Grausamkeiten, die Roy im zweiten, dem Kaschmir-Konflikt gewidmeten Erzählstrang verhandelt. Mutter India erscheint hier als blutrünstige Hydra, die ihre Kinder zu Tausenden verzehrt. In den Folterkellern der Polizei, den Pogromen von Hindus an Muslimen oder durch die Rechtlosigkeit der „unberührbaren“ vogelfreien Dalits. Es sind die Verheerungen einer patriarchalen, autoritären Gesellschaft, die Roy an Anjums Wahlfamilie und an Tilo und ihren drei Collegefreunden durchdekliniert, die sie in Kaschmir als Nachrichtendienstler, Milizionär und Journalisten wiedersieht. Und weit mehr als das. Roy beklagt die Grausamkeit der Spezies Mensch im Allgemeinen.
Das ist ein Sujet von alttestamentarischer Wucht und Schwere, die in der kraftvollen, poetischen Sprache Roys einen angemessenen Hallraum findet. Und in der Methode, unfassbare Episoden im Rückblick mehrerer Figuren zu schildern. Die saftige Kreatürlichkeit und Fabulierlust, die ihr beim „Gott der kleinen Dinge“ den Ruf einbrachte, der weibliche Salman Rushdie zu sein, tritt dagegen diesmal ein Stück zurück. Auch das ist womöglich ein Tribut der Schriftstellerin Arundhati Roy an die Wirklichkeit.
Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2017. 560 S., 24 €.
Die Autorin liest beim Internationalen Literaturfestival am 7. September um 19.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele.
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