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Bruno Dietrich und Sabine Sinjen in „Es“ von Ulrich Schamoni.
© Ulrich Schamoni Archiv, Berlin

Retrospektive der Berlinale: Indianer aller Länder, vereinigt euch!

Zeitdokumente und Werke für die Ewigkeit: Die Retrospektive der Berlinale widmet sich dem deutschen Film 1966 – in West und Ost.

Das ist doch mal eine Idee: Die Filme eines einzigen Jahres, die Filme Ost und die Filme West! 1966.

Beginnen wir mit einem, der in der Retrospektive gar nicht vorkommt. 1966 drehte die Defa ihren zweiten Indianer-Film, so hieß der Western DDR-sprachlich, schon weil diese grundsätzlich auf der Seite der Entrechteten, Unterdrückten, Ausgebeuteten, Heimatvertriebenen (sic!) und so weiter stand. Es war die Verfilmung von James F. Coopers „Wildtöter“, nur dass Wildtöter eben nicht der Hauptheld sein konnte, das war der heimatvertriebene Indianer „Chingachgook, die große Schlange“. Indianer aller Länder, vereinigt Euch! Der zweite Hauptheld war aber doch Wildtöter, und den spielte kein anderer als Rolf Römer, der Mann, der gerade eben noch Al war in Jürgen Böttchers – und jetzt sind wir bei der Retrospektive – „Jahrgang 45“. Neue Gesichter auf den Leinwänden Ost und West, und eines von ihnen war er: Rolf Römer.

Eine neue Generation von Filmemachern in Ost und West, Jahrgang ’45 eben, versuchte damals, die Nouvelle Vague zu kopieren: ihren metaphysischen Sinn fürs Alltägliche, ihre Einsicht in die Tatsache, dass die Grundentscheidung eines Lebens fallen kann, während man den Lidstrich nachzieht oder den Rasierpinsel weglegt. Schluss mit dem literarisierenden Kino der Väter!

Kopieren als Prämisse zur Hervorbringung der Originale

Aber was heißt kopieren? Wenn eine neue deutsche Generation Ostwest sich im Avantgarde-Kino Frankreichs entdeckt, dann ist das Kopieren die Prämisse zur Hervorbringung der Originale der Zukunft. Und man darf wohl sagen: Diesem Film – „Jahrgang 45“, entstanden in der DDR und nie gezeigt in der DDR – ist es 1966 wirklich gelungen.

Schnitt.

„Kopfstand, Madam!“, BRD 1965, Regie: Christian Rischert. Ewigkeiten eines jungen Ehepaares. Er rasiert sich, sie zupft an ihren Haaren. Das dauert! Es gibt nur eine Erklärung, eine Entschuldigung dafür: Nouvelle Vague! Doch das hat so gar keinen Rhythmus, die Deutschen konnten noch nie tanzen, wie sollten ihre Filme es auf einmal können?

"Darf ich wieder arbeiten gehen?"

Irgendwann aber wird klar, dass die Unendlichkeit mit Kamm und Spiegel nur Vorbereitung ist für eine ebenso unstellbare wie dringliche Frauen-Frage: Darf ich wieder arbeiten gehen? Die Miene des Mannes verhärtet sich: Sie sei also unzufrieden, nicht ausgefüllt? Sie wünsche sich demnach noch ein Kind? Nein, kein Kind, arbeiten wolle sie, antwortet Karin (Miriam Spoerri). Was folgt, ist ein überaus lehrreicher Anschauungsunterricht über die Stellung der Frau in der alten Bundesrepublik.

Wie befremdet waren die meisten DDR-entlassenen Ostfrauen nach 1990 vom westdeutschen Feminismus. Hätten sie doch gleich diesen Film gesehen! Oder auch „Mahlzeiten“ von Edgar Reitz oder Alexander Kluges „Abschied von gestern“. Auf die Idee, dass Frauen ihre Männer um Erlaubnis fragen mussten, ob sie arbeiten gehen oder ein eigenes Konto eröffnen dürfen, konnte nun wirklich keiner kommen. Nicht zu reden vom Schwangerschaftsabbruch.

Ost- und Westkino: Verwandter als gedacht

Liebe, grenzenlos. Monika Hildebrand und Rolf Römer in „Jahrgang 45“ von Jürgen Böttcher, wurde in der DDR nie gezeigt
Liebe, grenzenlos. Monika Hildebrand und Rolf Römer in „Jahrgang 45“ von Jürgen Böttcher, wurde in der DDR nie gezeigt
© DEFA-Stiftung

Auch in Peter Schamonis „Schonzeit für Füchse“ sind Frauen die mehr oder minder ziellosen Ornamente des Daseins an der Seite ihrer mehr oder minder ziellosen Männer. Der Film gewann 1966 den Silbernen Bären auf der Berlinale und holte drei Bundesfilmpreise. Ein retrospektives Rätsel.

Schon richtig, der Autorenfilm bekennt sich ausdrücklich zu dem Vorsatz, sein Publikum nicht zu schonen, er verachtet das Kino der Erleichterungen aus tiefstem Herzen. Aber was sind denn das für Dialoge? So spricht doch kein Mensch, nicht mal 1966! Also wäre es: Literatur vielleicht?

Zwei Freunde von Anfang zwanzig aus der besseren Gesellschaft Düsseldorfs gehen auf Distanz zu eben dieser Gesellschaft, deren Selbstgerechtigkeit auch der Krieg nicht erschüttern konnte; leider artikulieren sie diesen noch sehr vagen Wirklichkeitsvorbehalt unfassbar hausbacken-prätentiös. Gearbeitet wird hier wie in den meisten westdeutschen Filmen eher nicht. Da der namenlose Hauptheld als Beruf Autor angibt, steht zu befürchten, dass seine Verse genauso klingen, wie er spricht.

Ausbildung war in der DDR selbstverständlich

Merkwürdig: Auch die Rebellen, die Umstürzler, scheinen 1966 mehr auf östlichen als auf westlichen Leinwänden zu Hause zu sein. Man denke nur an Frank Beyers Brigadier Balla aus „Spur der Steine“ oder an Hermann Zschoches wunderbar leisen Film „Karla“, in dem eine junge Lehrerin ihre Eine-Frau-Revolution der Pädagogik beginnt.

Viele altbundesdeutsche Werke des Jahrgangs 66 sind heute vor allem als Zeitdokumente interessant. Zur kinematografischen Unsterblichkeit dürften es eher Ostprodukte wie „Jahrgang 45“, „Karla“ oder, natürlich, „Spur der Steine“ schaffen. Wobei der Befund natürlich ungerecht ist: Während die einen ein ganzes Studio und die Professionalität der Älteren im Rücken hatten, machten die jungen West-Regisseure ihre Filme oftmals mit einem einzigen Kapital, und das war ihr Glaube an sich selbst. Ausbildung war in der DDR selbstverständlich; in der Bundesrepublik begann man damals erst, diesen Gedanken näher ins Auge zu fassen, was zur Gründung der DFFB führte.

Und doch scheinen das Ost- und das Westkino Mitte der sechziger Jahre verwandter als gedacht: Der Horizont steht unendlich weit offen, die Zukunft gehört uns! Nur dass das Ostkino nicht nachholen musste, was das Westkino erst noch vor sich hatte: sich der Vergangenheit des eigenen Landes zu stellen.

Stumm verließen die Genossen den Vorführraum

Die Schicksale beider Aufbrüche jedoch könnten verschiedener nicht sein. Alexander Kluges noch immer höchst sehenswertes, stilbildendes, kaleidoskopartig erzählendes und von Kommentaren des Regisseurs unterbrochenes Emanzipationsdrama „Abschied von gestern“ gewann in Venedig den Silbernen Löwen, Volker Schlöndorffs „Der junge Törless“ holte den Kritikerpreis in Cannes.

Die Filme einer neuen Generation West traten hinaus in die Welt, hinter den Filmen der neuen Generation Ost aber schlossen sich die Türen der Panzerschränke. Im Herbst 1966 ritt Rolf Römer noch immer als Chingachgooks bester Freund um den hundekalten Huronen-Delawaren-See in der Hohen Tatra, als sich die staatliche Filminquisition den Rohschnitt von „Jahrgang 45“ zeigen ließ, noch ohne Vorspann, ohne Musik, ohne Synchronisation. Stumm verließen die Genossen den Vorführraum, das war das Ende. Römer erfuhr es in der Hohen Tatra, er hatte nicht übel Lust, einen Skalp zu nehmen.

P.S. Neben 20 Spiel- und Dokumentarfilmen werden in der Retro auch 30 sehenswerte kürzere gezeigt: etwa ein furioses Arbeitsporträt des Komponisten Paul Dessau, des großen Anwalts der Dissonanz in der DDR, der wunderbare dritte Golzow-Film der Junges und viele andere. Was für Einblicke in die Zeit!

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