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Streng nach Lehrplan. Auch in Coronazeiten sollen Schülerinnen und Schüler effizient ihre Aufgaben erfüllen.
© Annegret Hilse/REUTERS

Auf dem Holzweg: In der deutschen Bildungspolitik stehen schon lange nicht mehr Inhalte im Vordergrund

Schule auf, Schule zu: in Pandemiezeiten offenbart sich der enorme Ergebnisdruck im deutschen Bildungssystem. Es geht dabei um alles – nur nicht um Bildung.

Nun ist diese Debatte also vorerst auch wieder vom Tisch. Es wird am Montag keine Präsenzpflicht in den Berliner Schulen geben. Aufatmen vielerorts. Und der öffentliche Fokus kann sich endlich wieder den Mängeln der digitalen Lernplattformen zuwenden.

Wie wäre es denn damit: Um den Unterrichtsausfall in Pandemiezeiten zu kompensieren, könnte die Senatsverwaltung für Bildung den Schülerinnen und Schülern einfach ein Blinkist-Premium-Abo spendieren. 16 Millionen Nutzer weltweit verwenden die Wissens-App bereits, die ein Berliner Start-up vor einigen Jahren auf den Markt brachte. Sie verspricht eine Kurzzusammenfassung der Inhalte von Sachbüchern, die man sich lesend oder hörend mit dem Smartphone aneignen kann.

3000 Titel hat Blinkist im Angebot. So lässt sich Platons „Der Staat“ in 16 Minuten studieren, „Die Freiheit, frei zu sein“ von Hannah Arendt in 13 Minuten und die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gar in zehn Minuten. Beliebter aber sind bezeichnenderweise Titel wie „Denken hilft zwar, nützt aber nichts“, „Die 7 Wege zur Effektivität“ oder „Die Karrieresau“. Knapp und effizient digital informiert werden, dabei nicht zu viel geistige Ressourcen verschwenden – darin kommt das moderne Wissensverständnis zum Ausdruck.

Nur die Noten zählen

In der Pandemie ist kaum noch zu übersehen, dass in der deutschen Bildungspolitik schon lange nicht mehr Inhalte im Vordergrund stehen. In effizienz-, kompetenz- und outputorientierten Schulen ächzen Lehrerinnen und Lehrer seit Jahren unter einem enormen Druck durch Evaluationsmethoden, Digitalisierungsvorhaben, Vergleichbarkeitswahn und latenter PISA-Fixiertheit.

Folgerichtig war auch in den letzten Tagen ein allgemeines Klammern an allem zu beobachten, was unter den erschwerten Bedingungen noch vorzeigbare Ergebnisse bieten könnte. Verdächtig oft fiel in der Debatte um den Präsenzunterricht der Begriff der „abschlussrelevanten Jahrgänge“. Hauptsache die Klausuren sind geschrieben, die Noten eingetragen, die vorgegebenen Lernziele irgendwie erreicht.

Junge Menschen bräuchten nun mal auch in Pandemiezeiten Schulabschlüsse für ihre Zukunft, erklärte Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres. Noch geistloser drückte es Bayerns Ministerpräsident Markus Söder aus: „Schule und Kita hat ja den Sinn und Zweck, die Wirtschaft am Laufen zu lassen.“

Bildungsinstitutionen als Orte wirtschaftsdienlicher Pandemie-Betreuung – so weit sind wir mittlerweile. Kaum wagt man da noch die ketzerische Idee zu äußern, dass Schüler sich für einige Wochen auch jenseits von Rahmenlehrplänen bilden könnten.

Schulabgänger sollen effizient die Arbeitsmärkte bedienen

Wie nie zuvor sind in der Pandemie Statistiken, Fallzahlen und Schwellenwerte ständige Alltagsbegleiter. Corona-Ampeln, R-Werte und die Sieben-Tage-Inzidenz fesseln schon beim morgendlichen Blick ins Smartphone die Aufmerksamkeit. Wir wollen vergleichen, Unterschiede erkennen, das Unerklärliche irgendwie beherrschbar machen.

In der Schulpolitik herrscht hingegen schon länger große Angst vor den individuellen Mutationen des ungezügelten Bildungsvirus, das menschliche Seelen und Herzen zu erfassen droht. Darum wird fleißig normiert und standardisiert – alles um Lernkompetenzen noch präziser evaluieren, um noch effizienter die Arbeitsmärkte bedienen zu können.

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In der Debatte der letzten Tage führten Politiker gerne an, dass in Deutschland nun mal allgemeine Schulpflicht herrscht. Auf dem Papier soll diese gesetzliche Regelung Schülerinnen und Schüler auf ihre Rolle als zukünftige demokratische Staatsbürger vorbereiten.

Das Bundesverfassungsgericht begründete die Schulpflicht damit, dass „Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind“. Im Miteinander sollen sich mündige und kritische Subjekte herausbilden, die in der Lage sind, die Demokratie der Zukunft zu gestalten. Schulungspotenzial für solcherlei soziale und emotionale Fortbildung gäbe es derzeit an jeder Ecke.

Wachsendes Ressentiment gegen das Lernen

Denn was könnte man nicht alles lernen in diesen Tagen: Konträre Positionen in einem zivilisierten Ton abzugleichen, Zahlen und Fakten richtig einzuordnen, logische Argumentation von ideologischem Geschwafel zu unterscheiden. Kurzum: zu wissen, was ist und zu verstehen, warum es so ist. Freilich dürften solche Lerninhalte kaum zu evaluieren sein, prüfungsrelevant sind sie schon gar nicht – aber lebensrelevant. Dafür müsste der Ergebnisdruck vom Unterricht genommen werden, müssten Lehrpläne weniger eng gestrickt sein. Bildung braucht Freiräume.

Auf der anderen Seite lässt sich vielerorts ein wachsendes Ressentiment gegen das Lernen beobachten. Selbsterklärten Querdenkern fällt es offensichtlich schwer, zu akzeptieren, dass etwas den eigenen Wissenshorizont übersteigt. Die Neugier darauf, sich Neues anzueignen, schlägt in ein Aufbegehren gegen jegliche Belehrung um.

Hier lässt sich studieren, was es bedeutet, wenn Menschen aus Neid oder Angst alles längst verstanden haben wollen, bevor sie Informationen haben; alles erklären können, ohne irgendwas begriffen zu haben.

Geradezu weltfremd klingt da der Anspruch des ehemaligen FU-Professors Peter Bieri: Bildung bedeutet ein „Anwachsen der sozialen Phantasie und der moralischen Sensibilität“, schreibt der Philosoph im Essay „Wie wäre es, gebildet zu sein?“. „Je gebildeter jemand ist, desto besser ist er darin sich auszumalen, wie es wäre, in der Lage anderer zu sein.“

Statt Selbstreflexion wird Spezialistentum gefördert

Schon Wilhelm von Humboldt zielte mit seinem Bildungsbegriff auf Gesellschaft und Individuum ab. Er sprach von einer „Verknüpfung von Ich und Welt“. Dem Menschen sollte im Bildungsprozess ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst und seinen Mitmenschen ermöglicht werden.

So könne er seinen Einfluss auf die Welt, aber auch den Einfluss der Welt auf sich selbst erkennen. Zwischen Selbstbestimmung und Gemeinwesen reife Urteilsvermögen und Reflexionsfähigkeit.

Doch im Gymnasium, wo einst Humboldts ganzheitliches Bildungsideal hochgehalten wurde, soll heute das konkurrierende Spezialistentum von morgen keimen. Selbst Studierende sind nicht mehr Teil einer von Neugier getriebenen, diskutierenden Forschungsgemeinschaft, sondern hecheln in Exzellenzclustern ihren Credit-Points nach.

Auch im Homeschooling muss geliefert werden

Im Kontext der Pandemie mag der Ruf nach flächendeckender Digitalisierung verständlich sein, ein Ausweis für ein gelungenes Bildungskonzept ist er aber längst nicht. Dafür machen zu viele Schüler im Homeschooling oder im ausgekühlten Klassenzimmer derzeit die Erfahrung, dass der Kern des Lernens das Erfüllen von Vorgaben ist.

Wer in den kleinen Freiräumen der vergangenen Wochen bei seinen Kindern wider Erwarten Symptome von Kreativität, Neugierde und Fantasie entdeckt haben sollte, der darf beruhigt sein. Der Impfstoff dagegen ist schon seit Jahrzehnten erprobt: falsche Bildungspolitik. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder flächendeckend Wirkung entfaltet.

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