Neues Buch von Terézia Mora: Im Taumel der Unmittelbarkeit
Gegen die Wirklichkeit hat niemand eine Chance: Terézia Moras Erzählband „Die Liebe unter Aliens“.
Jetzt bist du also Rentner.“ Masahiko Sato trifft diese Erkenntnis zwar nicht aus heiterem Himmel, aber doch mit voller Wucht. Rente – das bedeutet ein Übermaß an verfügbarer Zeit. Zwar hat der emeritierte Professor Pläne – Bücher schreiben natürlich, vielleicht sogar kleine Erzählungen – , aber erst einmal ist da etwas, mit dem er nicht zurechtkommt: der gewöhnliche Alltag. Professor Sato lebt zusammen mit seiner Frau Vera in Berlin, ein glückliches Paar, das sich einstmals in Japan beim Tangotanzen kennengelernt hat. Und nun also diese Leere, ein merkwürdiges Innehalten der Zeit, die immerzu gerast ist und nun plötzlich zur Herausforderung wird.
Einige der Figuren in Terézia Moras neuem Erzählungsband „Die Liebe unter Aliens“ kommen an diesen Punkt, an dem sie der Lebensüberdruss und die Mittellebensproblematik packt, an dem sie durch die Stadt streifen, an Schaufenstern kleben bleiben, überraschende Entdeckungen machen oder einem Dieb in entlegene Stadtgebiete nachlaufen, um dabei festzustellen, dass sie ihr Ziel schon lange aus den Augen verloren haben. Es pocht etwas in ihnen. Das Herz pumpt noch genug Blut durch den Körper, aber zugleich scheinen sie bereits eine gewisse Lähmung zu verspüren.
Terézia Mora hat zuletzt mit zwei Romanen über einen Durchschnittsangestellten und seine Begegnung mit der Tragik des Lebens ihre große erzählerische Kraft unter Beweis gestellt. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“ hießen diese beiden brillanten Bücher. Letzteres brachte ihr vor drei Jahren den Deutschen Buchpreis ein. Über die Hauptfigur Darius Kopp heißt es darin: „Für etwa eine Minute war Kopp außerstande, mehr von der Welt zu begreifen, als was er von ihr unmittelbar erfuhr.“ Auch die meist traurigen Helden ihres Erzählungsbands sind in einem Unmittelbarkeitstaumel – und falls sie Pläne für die Zukunft haben, prallen diese meist ungeschützt auf dem harten Boden der Realität auf.
Fremdheit und Ferne, die kuam zu überwinden sind
In der Titelgeschichte erzählt Mora von einem jungen Paar, Tim und Sandy, zwei Kindern eigentlich noch, die ein bisschen haltlos sind, zumindest aber ohne Vergangenheit, in die sie sich flüchten könnten. Sie lernen sich in einer „Einrichtung“ kennen und halten sich aneinander fest. Das ist ihre kleine Utopie. Bis Sandy eines wunderschönen Tages verschwindet, keine Spuren hinterlässt, keine Nachricht. Tim, der Koch werden will, sucht nach ihr; er sucht zusammen mit der älteren Ewa, die seine Ausbilderin ist und die sich ein wenig verantwortlich fühlt für ihn; er wartet, er verzweifelt, und ganz am Ende wird auch er verschwunden sein. Es passiert nicht viel in dieser Geschichte, aber zwischen den Figuren, die auf subtile Weise miteinander verbunden sind, umso mehr. Die Geschichte einer ersten Liebe wird kontrastiert durch die schon lange bestehende Beziehung von Ewa und Dolf – die kurze Euphorie hier, das enttäuschte Sehnen dort. Und schließlich eine Fremdheit und Ferne, die kaum zu überwinden ist.
Moras Alltagshelden sind nicht selten sehr allein mit ihren Gefühlen. Sie analysieren sich nicht, auch wenn sie versuchen, ihrem Leben und ihren Wünschen auf die Spur zu kommen – zuweilen mit einer rührenden Unbeholfenheit, immer höchste Gefahr laufend, zu scheitern oder auf der Suche nach Nähe noch ein wenig weiter aus der Welt hinausgeschleudert zu werden. Tom etwa. Tom hatte als Kind einen Freund gleichen Namens; die Freundschaft endete irgendwann, oder sie verflüchtigte sich – eine längst vergangene Geschichte.
In den Geschichten Moras werden die Zwischentöne der Welt hörbar
Inzwischen hat Tom einen Sohn, mit dessen Mutter er nicht mehr zusammenlebt; er sieht den Jungen alle paar Wochen. Was das bedeutet und was das Auseinanderbrechen der Liebe mit ihm gemacht hat, wird von Mora ganz nebenbei erzählt, knapp und doch so, dass ein Bild dieses Menschen entsteht. Ein Brief informiert Tom vom Tod seines Jugendfreundes, so setzt die Erinnerung ein und das Verlangen, zu wissen, wie es dem anderen ergangen war: „Was nützt einem ein Grab, ein Grab kann nicht reden. Er wollte jemanden von den Verwandten wiedersehen, gerne eine Schwester, um mit ihr über den anderen Tom zu reden. Was heißt das: ,ist verstorben’? Plötzlich und unerwartet? Nach langer/kurzer Krankheit? Unter tragischen Umständen? Und überhaupt: wie hat er die letzten 25 Jahre gelebt?“
Das Treffen mit der jüngeren Schwester ist eine Lehre in Desillusion: Es fehlen die Worte, alles, was aus den Phrasen eine Geschichte machen könnte. Mora erzählt davon, wie verzweifelt ihre Figuren sich nach einer Lebenserzählung sehnen.
Und was passiert mit Masahiko Sato, dem melancholischen Professor aus der letzten der zehn Geschichten von „Die Liebe unter Aliens“? Im Schaufenster einer Reinigung entdeckt er einen kleinen Altar mit einem Holztäfelchen, „wie man sie in buddhistischen Tempeln verkauft. Zwei Hand hoch, eine Hand breit, goldener Grund und darauf: ein Bildnis der Göttin der Barmherzigkeit. Kannon, die die Töne der Welt wahrnimmt.“
Er erkennt diese Bildtafel, sie stammt aus einem Tempel, in dessen Nähe er aufgewachsen ist. Masahiko ist verstört, zurückkatapultiert in seine Kindheit, aber auch gebannt von dem Anblick der Frau, der die Reinigung gehört.
Ein unglaublicher Zufall führt die beiden schließlich zusammen, und man weiß nicht, welche Folgen diese Begegnung haben wird – nur, dass eine Ahnung von Glück in die Leere des Masahiko Sato einbricht; es streift ihn so unerwartet, wie das Unglück einen unerwartet streifen kann. In den Geschichten Terézia Moras werden die Zwischentöne der Welt hörbar.
Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens. Erzählungen. Luchterhand Verlag. München 2016. 270 Seiten. 22 €.
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