Filmfestival in Venedig: Im Reich der Minis
Die Angst, die Zukunft – und Alexander Paynes US-Satire „Downsizing“: zur Eröffnung der 74. Filmfestspiele Venedig.
Die sicherste Mostra aller Zeiten versprechen die Chefs des 74. Filmfests Venedig. Mit 30 Prozent mehr Sicherheitskräften, Beton-Straßensperren, Überwachungskameras und speziellen Anti-Terror-Spähern. Sie laufen in Zivil herum und sind mit Smartphone-Kameras ausgestattet, die noch im Kinosaal Verdächtige per Datenabgleich und Gesichtserkennung identifizieren können. Kino total in Zeiten des Terrors: Ist mein Gesicht auch schon erfasst?, fragt man sich bang.
Zwar diagnostiziert das örtliche Lokalblatt „Il Gazettino“ ein erheblich höheres Klima der Angst als 2016, aber noch wenige Stunden vor der Festivaleröffnung auf dem Lido erscheint einem jeder Gedanke an einen Anschlag absurd, so verschlafen, wie Venedigs Strandinsel in der Sonne brütet. Das lauteste Geräusch: die Akkuschrauber der Handwerker, die die Provisorien der „Citadella del Cinema“ zurechtzimmern. Etwa am Festival-Giardino mit Brunnen und roter Kinobaracke, der die jahrelang klaffende mafia- und asbestverseuchte Baugrube endgültig unter den Rollrasen kehrt. Oder an der schneeweißen Fassade des historischen Palazzo del Cinema mit Dutzenden Kugellampen anstelle der roten XXL-Pailletten der Vorjahre. Eine Lightshow am Roten Teppich, schön, wenn die Mostra d’arte cinematografica die altmodische Rede von den Lichtspielen beim Wort nimmt.
Amerika im Kleinen
Liebling, ich habe die Welt geschrumpft. Alexander Paynes Eröffnungsfilm „Downsizing“ passt vorzüglich zum Start eines Festivals. Was ist es anderes als kontrahierte Realität einschließlich aller Fantasien und Alpträume, die die Wirklichkeit übersteigen? Er passt auch zu einer anderen Angst, der Sorge um Klimawandel, Überbevölkerung und ihre katastrophalen globalen Folgen. Ein mitten in der Gegenwart angesiedeltes Science- Fiction-Szenario, eine aberwitzige Probe aufs Exempel: Könnte man die Menschen nicht verkleinern, sagen wir, auf zwölf Zentimeter? Es hätte immens positive Folgen für die Ressourcen des Planeten. Wasser- und Energieverbrauch, Müllproduktion, Umweltverschmutzung, alles erheblich verringert – Erde gerettet.
Nachdem ein norwegischer Forscher das entsprechende Mittel erfunden hat, kommt Downsizing schnell in Mode, bedeutet es doch, mit wenig Geld im Luxus schwelgen zu können und die Strapazen des Großseins hinter sich zu lassen. Von der Riesenvilla bis zur kubanischen Zigarre gibt’s im Reich der Minis alles zum Spottpreis. Auch Paul Safranek aus Colorado, ein Otto-Normal-Typ, wie ihn zur Zeit niemand besser verkörpern kann als Matt Damon, will seiner Frau (Kristen Wiig) endlich mehr bieten als Hypotheken, das Ehepaar entscheidet sich fürs Schrumpfen. Köstlich, mit welcher Akribie Alexander Payne („About Schmidt“, „The Descendants“) die Prozedur in der fabrikähnlichen Klinik schildert, inklusive Komplettkörperrasur, Zahnprothesen-Entfernung plus XXS-Wiedereinsatz und Umheben der Winzlinge mit einer Art Pfannenwender.
Aber dann findet sich der gute Paul alleine auf der Seite der Mini-Menschen wieder und muss feststellen: Leisureland, die gated community unter der Glashaube (jeder Moskitostich wäre tödlich!), ist eine Gesellschaft von Egoisten. Alle sind scharf auf den billigen Reichtum, die Erderwärmung ist ihnen herzlich egal.
Bei allem Vergnügen an der ohne Special-Effect-Schnickschnack präsentierten Satire – dafür mit Christoph Waltz und Udo Kier als herrlich chargierenden Glücksrittern – verabreichen der Independent-Regisseur und sein Ko-Autor Jim Taylor dem Publikum eine bittere Pille. Leisureland entspricht exakt jenem Amerika, das Donald Trump seinen Wählern versprach: der kleine Mann ganz groß, der Luxus erschwinglich für alle. Aber noch die Pioniere des Schrumpf-Experiments, eine Aussteiger-Kommune im norwegischen Fjord, denken am Ende nur an sich. Als Paul an eine tapfere, vietnamesische Dissidentin gerät (geschrumpfte Flüchtlinge können leichter Grenzen überqueren!), steht er vor einem moralischen Dilemma...
Hollywood gastiert am Lido
Venedig eröffnet traditionell die Oscar- Saison, dicht gefolgt von den Festivals in Telluride und Toronto. Gerade Venedig hat sich in letzter Zeit als ideale Startrampe für das Rennen um die Goldjungs erwiesen, mit Filmen wie „Gravity“, „Birdman“, „Spotlight“ und „La La Land“. Wobei sich Telluride mit der Weltpremiere für den jüngsten Oscar- Sieger „Moonlight“ zur immer stärkeren Konkurrenz entwickelt. Festivaldirektor Alberto Barbera betont, man arbeite friedlich zusammen – wer’s glaubt. Richard Linklaters neueste Produktion „Last Flag Flying“ musste Venedig an New York abtreten, und das sehnlich erwartete Prequel „Blade Runner 2049“ kommt wohl ohne Festival-Vorlauf in die Kinos, Anfang Oktober, weltweit.
Unter den 21 Wettbewerbsfilmen am Lido finden sich gleich vier Oscar-Anwärter, in den nächsten Tagen droht Star- Staugefahr bei den Gala-Defilees. Auf „Downsizing“ mit Matt Damon und Co. folgen Guillermo del Toros Horror-Liebesfilm „The Shape Of Water“ mit Sally Hawkins und zur Samstags-Primetime George Clooneys Fünfziger-Jahre-Vorstadt-Drama „Suburbicon“, gleich wieder mit Damon und mit Juliane Moore. Für Darren Aronofskys Psychothriller „Mother“ sind Jennifer Lawrence und Javier Bardem angekündigt, für Martin Donaghs Tragikomödie „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ Frances McDormand, Woody Harrelson und Sam Rockwell, für das Silver-Ager-Roadmovie „The Leisure Seeker“ Helen Mirren und Donald Sutherland. Außer Konkurrenz treten Jane Fonda, Robert Redford, Judi Dench und Penelope Cruz an.
Algorithmen für den Box-Office
Alberto Barbera sorgt sich trotzdem um die Zukunft der Filmfeste, die es immer schwerer haben, Produktionen ihrer Wahl zu ergattern. Weniger wegen der Oscars oder der Festivalkonkurrenz, sondern wegen der zunehmenden Mitsprache der Investoren, etwa aus China. „Box-Office-Vorhersagen fürs Startwochenende werden mit Algorithmen errechnet, wie Kursverläufe in der Finanzwelt“, erklärte Barbera dem Branchenblatt „Screen International“. Weil die erste Begegnung eines Films mit dem Publikum entscheidend sein kann für den Kassenerfolg, droht der Uraufführungs-Segen zum Fluch zu werden. Weltpremieren sind unberechenbar, die Dynamik von Festivalhypes kann keiner prognostizieren. Folglich stellt der tolle Moment des allerersten Blicks auf ein Werk für die Finanziers ein kapitales Risiko dar.
Und die Zukunft des Kinos? Die 3-D-Welle ist versandet, nicht nur auf den Festivals. Die nicht unumstrittene Aufnahme der Streamingdienste in die Riege der Branchenplayer findet auch in Venedig ihren Niederschlag: Netflix zeigt eine Krimi-Serie, Ai Weiweis auf den Freitag terminierte Flüchtlings-Dokumentation „The Human Flow“ wird von Amazon vertrieben. Das allerneueste heiße Ding ist jedoch Virtual Reality, das Kino der Immersion.
Als erstes großes Festival hat Venedig einen VR-Wettbewerb ins Leben gerufen. Die Filme, Games und interaktiven Installationen werden auf einer der kleinen, dem Lido vorgelagerten Lagunen-Insel in historischen Lagerhallen präsentiert. Headset auf und nichts wie rein in die 360-Grad-Bilderwelt. Liebling, ich habe das Kino geschrumpft, ist das die Zukunft? Mehr darüber demnächst.