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Anti-Helden: Jimmy Corrigan und sein Vater.
© Reprodukt

Graphic Novel: Die Bosheit des Banalen

Seit langem ersehnt, nun endlich da: Diese Woche erscheint die deutschsprachige Edition von Chris Wares Meisterwerk „Jimmy Corrigan – The Smartest Kid On Earth“.

Seit Jahren wurde in einschlägigen Comicforen über eine bevorstehende deutschsprachige Ausgabe von Chris Wares „Jimmy Corrigan – The Smartest Kid On Earth“ diskutiert. Voll freudiger Erwartung blickte man bereits damals diesem Jahrhundertwerk entgegen, denn um nichts Geringeres handelt es sich bei dem Comic. „Ein Meilenstein, der zeigt, was Comics leisten können“, urteilte „Maus“-Schöpfer und Pulitzer-Preisträger Art Spiegelman beim Erscheinen der US-Ausgabe von Wares autobiografisch inspiriertem Werk im Jahr 2000. Nun, Reprodukt sei dank, ist es da und kommt gegen Mitte dieser Woche in den Handel – in schöner Edition mit einem am Original orientierten Handlettering.

Der Band ist schon aufgrund seines Sujets bemerkenswert: Sein namensgebender Protagonist ist das Gegenteil eines typischen Comic-Helden. Er ist einer der größten Anti-Helden überhaupt, unabhängig vom Medium. Seine episodenhaft abgehandelte Lebensgeschichte setzt sich aus niederschmetternden Kindheitserfahrungen und alltagsbestimmenden Nichtigkeiten zusammen, die ein Stück Leben formen, das banaler, bemitleidenswerter und abstoßender kaum sein könnte.

Die Existenz dieses Büroangestellten, der schon als Kind greisenhafte Züge trägt und noch als Enddreißiger der Infantilität nicht entkommt, wird als einzige Katastrophe inszeniert. Unfähig, sich von seiner Mutter abzunabeln und außerstande, sich mitzuteilen oder gar Initiative zu ergreifen, ist Corrigans Dasein ein Spiel- oder besser: Punchingball der größeren und kleineren Mächte, die ihn umgeben. Seine kleine Welt hat ihn gänzlich im Griff. Man kann diese Figur gut mit Herrn R. vergleichen, der traurigen Gestalt von Fassbinders und Fenglers Regiekooperation „Warum läuft Herr R. Amok?“. Ein gewaltvoller Exzess wird Jimmy Corrigan jedoch nicht vergönnt. Ihm bleiben lediglich Ausflüge in Tagträumereien.

Genealogie der Bitterkeit: Eine Seite aus "Jimmy Corrigan".
Genealogie der Bitterkeit: Eine Seite aus "Jimmy Corrigan".
© Reprodukt

Dass die Schilderung dieser Außenseiterexistenz die 384 Comicseiten tragen kann, liegt zum einen an der literarischen Wucht, die hier entfesselt wird. Ware setzt Corrigans Schicksal mit dem seines Großvaters in Bezug, wodurch sich der Comic als episch angelegte Genealogie der Bitterkeit liest. Daneben ist es sein singulärer Zeichenstil. Er schafft expressive, scharf umrissene Bilder zwischen Ligne Claire, frühem Zeitungscomic und Gebrauchsgraphik und bettet diese in ein streng geometrisches Seitenlayout, das ein paralleles Kommunizieren unterschiedlicher Erzählstränge zulässt. Selbst überbordende Handlungsabschnitte wirken innerhalb dieser Bildkompositionen aufgeräumt und übersichtlich – und die Welten, die er dadurch schafft, zugleich wahrhaftig und künstlich.

Jimmy Corrigan war für uns wie die Bibel“

Diese Symbiose aus Ausdruck und Sterilität hat weit über die Comicszene hinaus Furore gemacht; vermutlich kann man die Tragweite von Wares´ Stil gar nicht hoch genug einordnen. „Wer Chris Ware kannte, gehörte während meines Illustration-Studiums einem Verein der Wissenden an. Jimmy Corrigan war für uns ein bisschen wie die Bibel“, erklärt dazu der deutsche Comic-Künstler Simon Schwartz, dessen Graphic Novel „Packeis“ im vergangenen Jahr mit dem Max-und-Moritz-Preis als bester Comic des Jahres geehrt wurde.

Meisterwerk: Chris Wares "Jimmy Corrigan" wurde in der Kategorie "Bester nordamerikanischer Comic" für den "Peng!"-Preis vorgeschlagen.
Meisterwerk: Chris Wares "Jimmy Corrigan" wurde in der Kategorie "Bester nordamerikanischer Comic" für den "Peng!"-Preis vorgeschlagen.
© Reprodukt

Bei Reprodukt ist es Usus, den Output eines Künstlers nach und nach zu erschließen. Hoffentlich gelingt dies dem Verlag auch bei Ware. Dann darf man sich zum Beispiel. auf „Building Stories“ freuen, seinem neuesten Streich. Bei diesem Werk handelt es sich um ein schier unglaubliches Konglomerat an narrativen Design-Objekten, das einen, um es komplett zu erschließen, locker für mehrere Wochen in Beschlag nimmt – und das den Comic-Begriff abermals um etliche Facetten erweitert.

Chris Ware: Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt, Übersetzung Heinrich Anders und Tina Hohl, Handlettering Michael Hau, 384 Seiten, 39 Euro. Leseprobe auf der Website des Verlages.

Christian Neubert

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