Forum und Panorama auf der Berlinale: Im Echoraum der Geschichte
Die Gegenwart der Vergangenheit: Revisionen der siebziger und achtziger Jahre in den Berlinale-Sektionen Forum und Panorama.
Die Magnetbänder waren verschollen, aber dann fand Ruth Beckermann eine Kopie mit ihrem Videomaterial aus der Zeit der Waldheim-Affäre. Auch sie demonstrierte damals gegen den ehemaligen UN-Generalsekretär Kurt Waldheim, als dessen NS-Vergangenheit ans Licht kam. Am 4. Mai 1986 wählte Österreich ihn trotzdem zum Bundespräsidenten. „Mit dem Abstand von 30 Jahren“, sagt die Dokumentarfilmerin heute, „wirkt einiges schockierender als damals. Vor allem der offen zu Tage tretende Antisemitismus.“
Was geschieht, wenn man alte Bilder wieder ansieht? Im Forum und im Panorama sichten gleich fünf Dokumentarfilme Material aus den Siebzigern und Achtzigern. Revisionen und Rekonstruktionen von Konflikten, Kriegen, Bürgerbewegungen, Avantgarden. Von Historisierung kann dabei keine Rede sein.
In „Waldheims Walzer“ kommentiert Beckermann aus dem Off ihre eigenen Aufnahmen sowie TV- und Archivbilder vom Ende der nationalen Unschuldslüge und vom neuen alten Judenhass. Die Spurensuche führt mitten hinein in die Gegenwart, ohne dass der Film Kanzler Kurz oder FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache auch nur erwähnen müsste. Ihr deutlich jüngerer Cutter und ihr Sohn dachten bei den Waldheim-Bildern ohnehin sofort an Trump, „an den Populismus von heute“. Die Vergangenheit aktualisiert sich selbst. Auch der urugayische Vierstunden-Film „Unas preguntas“ schaut auf 1986 zurück: Die Schweizerin Kristina Konrad ist in Montevideo mit einer U-matic-Kamera unterwegs, um mit Passanten über das Amnestiegesetz zu diskutieren, das den Schergen der ehemaligen Militärdiktatur Straffreiheit garantierte. Eine Gesellschaft im Aufbruch: Menschenrechtler und Mütter von verschwundenen Folteropfern erwirken ein Plebiszit zur Abschaffung des Gesetzes. Sie scheitern – das Gesetz ist noch immer in Kraft.
Die Zeit verläuft nicht linear
In „Yours in Sisterhood“ bittet die US-Filmemacherin Irene Lusztig Amerikanerinnen von heute, Leserbriefe an die Zeitschrift „Ms.“ aus den Siebzigern vor der Kamera vorzutragen. Es geht um sexuelle Übergriffe, Diskriminierung am Arbeitsplatz, Gewalt in der Familie, Abtreibung, Rassismus, Sexismus. MeToo lässt grüßen: Worte von damals mit den Stimmen von heute – und umgekehrt. „Teatro de guerra“ wiederum, das Regiedebüt der Künstlerin Lola Arias, stellt in einer bewegenden theatralen Traumaarbeit den Falklandkrieg von 1982 buchstäblich nach. Sechs Soldaten, einstmals Feinde, reinszenieren das Töten, das Überleben – und machen zusammen Rockmusik. Erinnerung ist etwas Physisches. Der Geist verdrängt, der Körper vergisst nicht.
Das lässt sich auch in „Waldheims Walzer“ beobachten, etwa angesichts von Waldheims Händen, seinen ausholenden, abwiegelnden, die Wahrheit wegwischenden Gesten. „Archivmaterial ist kaltes Material“, sagt Beckermann. „Aber wenn man es einmal durchgearbeitet hat, dann spricht aus den Bildern das, was ich gerne das optisch Unbewusste nenne.“ Zum Beispiel ein Augenaufschlag, an dem man sieht, dass jemand lügt.
Die Zeit verläuft nicht linear, so die Diagnose all dieser Filme. Jedem Aufbruch wohnt ein Zauber inne, aber der Mensch lernt nicht so leicht aus der Geschichte. „Er schreibt sie nur immer wieder um“, so Beckermann. Und manchmal liegt die Zukunft schon hinter uns.
Dem Tod bei der Arbeit zuschauen
Zum Beispiel im Panorama-Beitrag „That Summer“, mit lange verschollenen Filmaufnahmen von 1972, gedreht von Andy Warhol, Peter Beard und Lee Radsziwill (der Schwester von Jackie Kennedy). Fragmente einer Avantgardeszene, verblichene Bilder von der New Yorker Szene auf Urlaub in Montauk: Warhol privat, die Stones, Capote, Francis Bacon. Und die legendären Grey Gardens in East Hampton, das Domizil von Lees und Jackies Verwandtschaft. Die ruinöse Villa wird von zwei exzentrischen Hippie-Veteraninnen bewohnt, Mutter und Tochter, Big und Little Edie: museale Relikte einer freien, wilden Zeit. Performance heute sieht alt aus dagegen. Wobei sich der Film ohne Kenntnis jener Szene und der Herkunftsfamilie von Jackie Kennedy nur schwer erschließt.
Filmen heißt, dem Tod bei der Arbeit zuschauen, hat Jean Cocteau gesagt. Es heißt auch, das Unvergängliche zu bewahren. Die Dokumentationen betreiben Archäologie des analogen Zeitalters. Geht demokratische Willensbildung, feministische Selbstverständigung oder Erinnerung in digitalen Zeiten eigentlich anders vor sich? Heute würden bei Straßenprotesten unzählige Smartphones filmen. Schaut her, ich war dabei! Ruth Beckermann findet das nicht schlimm, sie hältes mit Henri Cartier-Bresson: Es kommt nicht auf die Kamera an, sondern auf den, der sie hält.
In „Yours in Sisterhood“ kommunizieren die Generationen gleichsam miteinander: Die Leserbriefschreiberinnen schlagen sich mit heutigen Problemen herum, und die heutigen Frauen vor der Kamera bezeugen die verblüffend aktuelle Vielfalt der Frauen aus den Siebzigern, von der 16-jährigen Lesbe bis zur feministischen Abtreibungsgegnerin. Erst im Abspann erfährt man, dass nur einer der vorgetragenen Briefe damals in den Siebzigern veröffentlicht wurde.
Medien als Stimmungsmacher und Manipulator
In „Unas preguntas“ wiederum verwandelt Regisseurin Konrad den öffentlichen Raum zur Agora. „Was ist Frieden?“, will sie unentwegt von den Leuten wissen, vor ihrer Kamera kommt es zu leidenschaftlichen Disputen. Konrads Film zeigt auch, wie die Energie einer offenen, sich selbst befreienden Gesellschaft allmählich der Agitation weicht und die Stimmung umschlägt. Dem Optimismus folgen soziale Spaltung und politischer Frust. Dennoch kann man in Zeiten von Klickraten und Filterblasen nicht genug an die Macht des Arguments erinnern. Daran, wie klug das sogenannte Volk sein kann, wenn man ihm nur zutraut, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen.
Die Rolle der Medien und des damaligen staatlichen Monopolfernsehens als Stimmungsmacher, Manipulator und erheblicher Faktor für die Verfestigung der öffentlichen Meinung erkundet „Waldheims Walzer“ ebenso wie „Unas preguntas“. Gleichzeitig rückt auch die Gegenöffentlichkeit ins Bild, die etwa Waldheims Präsidentschaft zwar nicht verhinderte – aber doch einen Bewusstseinswandel in Gang setzte. Den Versuch ist es wert, immer wieder, auch heute.
Ein bisschen Wehmut schwingt auch mit. Ruth Beckermann war 1986 mit einer der ersten tragbaren Videokameras unterwegs. Der schwere, umständliche Apparat, der Widerstand des analogen, inzwischen gealterten Materials, es besitzt seine eigene Aura. Folgt bald eine Renaissance des Zelluloids? Vinyl ist ja auch längst wieder in Mode.