„Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde“: Ihrer Zeit voraus
Waren die US-Zeitungscomics verdrängte Vorreiter der Moderne? Eine Frankfurter Schau macht sich für die Wegbereiter der Kunstform stark.
Das wohl bemerkenswerteste an dieser Ausstellung ist nicht, was sie zeigt. Sondern wo und wie sie es tut. Gelungene Ausstellungen zu ausgewählten Themen und Autoren der Comicgeschichte hat der in der Szene hochgeschätzte Kunsthistoriker Alexander Braun in den vergangenen Jahren bereits mehrere kuratiert und durch deutsche Museen touren lassen, jeweils ergänzt um opulente Kataloge. Aber diese Ausstellungen waren in der Regel in Häusern wie dem Wilhelm-Busch-Museum in Hannover oder dem Bilderbuchmuseum in Troisdorf bei Köln zu sehen, die Comics gegenüber traditionell offener sind.
Brauns jüngste Ausstellung jedoch, „Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde“, ist seit vergangener Woche in der Frankfurter Schirn zu sehen, einem der wohl angesehensten europäischen Kunstmuseen, das nie zuvor einen Comic gezeigt hat. Im Zentrum stehen US-Zeitungscomics und seltene Originale aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Winsor McCay, Lyonel Feininger, Charles Forbell, Cliff Sterrett, George Herriman und Frank King – die neben den Pionieren der europäischen Bilderzählung und des japanischen Manga für eine der entscheidenden Traditionslinien des modernen Comic stehen. „Toll, dass die Ausstellung nicht in einem Nischenmuseum stattfindet oder auf dem Comic-Salon“, sagte Braun bei der Eröffnungsveranstaltung. „Wenn es in der Schirn stattfindet, hat das nicht nur eine andere Bedeutung, sondern wird auch ganz anders rezipiert.“
Kritik am „ausgeprägten Chauvinismus“ der Kunstwelt
Denn Brauns Anliegen ist es nicht in erster Linie, zum wiederholten Male dem comicaffinen Publikum zu zeigen, was die Meister des Faches in den vergangenen gut 100 Jahren an lesenswerten und künstlerisch wertvollen Bildgeschichten geschaffen haben und wie eng der Erfolg dieser Arbeiten mit dem Aufstieg der Zeitung zum Massenmedium zusammenhing – wenngleich seine Ausstellung auch Comic-Kennern noch Neues vermitteln kann. Ebensowenig will er illustrieren, wie sehr der Comic die bildende Kunst inspiriert hat oder umgekehrt. Das haben in den vergangenen Jahren mehrere Kunstmuseen in Ausstellungen wie der jetzt im Hamburger Kunst- und Gewerbemuseum zu sehenden Schau „Hokusai X Manga“ getan. „Wir wollen den Comic als eigenständige Kunstform zeigen, ohne die Hochkultur als Türöffner zu benutzen“, sagt der Kurator entschlossen.
Braun hat für seine Mission in Frankfurt starke Bündnispartner gefunden. Für Max Hollein, den langjährigen Schirn-Direktor, der kürzlich nach San Francisco wechselte, ist die Schau so etwas wie der Anfang einer Wiedergutmachung für die jahrelange Missachtung des Comics durch das Kunst-Establishment. „Die Kunstwelt hat den künstlerischen Wert des Comics lange unterschätzt“, schreibt er im Vorwort des Ausstellungskatalogs und geißelt den „ausgeprägten Chauvinismus“, der gerade in Europa lange dazu beigetragen habe, viele avantgardistische Impulse nicht zu würdigen, die sich im frühen Comic finden lassen.
Nicht nur in dieser Hinsicht ist „Pioniere des Comic“ ein Meilenstein. Auch inhaltlich lässt sich sagen, dass es wohl nie zuvor im deutschsprachigen Raum eine derart fundierte Würdigung der hier vorgestellten sechs Comic-Künstler gegeben hat, deren Arbeiten in vielfacher Hinsicht als Teil der künstlerischen Avantgarde ihrer Zeit gesehen werden können. So schuf der von Braun als „Übervater des modernen Comics“ eingeführte Zeichner Winsor McCay vor allem mit seiner Traumwandler-Serie „Little Nemo in Slumberland“ ab 1904 surrealistische Bilderwelten zu einer Zeit, als Salvadore Dali noch ein Baby war.
Der hierzulande weniger bekannte, aber damals in der US-Kunst-Avantgarde bestens vernetzte Zeichner Cliff Sterrett, dessen Familienkomödie „Polly and her Pals“ ab 1912 Millionen von US-Zeitungslesern erheiterte, erscheint mit seinen psychedelisch überbordenden Farb- und Formspielen mit manchen Arbeiten wie ein Wandler zwischen Expressionismus und Surrealismus, dann aber wieder wie ein früher Vertreter der Pop-Art – Jahrzehnte bevor es diesen Begriff gab.
Die „Great American Novel“ in Comicform
George Herriman schuf ab 1913 mit seinen Krazy-Kat-Strips, in denen eine Katze, eine Maus und ein Hund in ein dadaistisches Beziehungsdreieck verwickelt sind, eine Art absurdes Slapstick-Papiertheater, „als Samuel Beckett gerade eingeschult wurde“, wie Braun süffisant bemerkt. Und Frank King ließ ab 1921 in seiner enorm populären Serie „Gasoline Alley“ die Leser über Jahrzehnte in Echtzeit an den Lebensgeschichten ihrer Hauptfiguren teilhaben, von kleinen Alltagsfreuden bis zur Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg. Das ergibt eine einzigartige Verbindung von Kulturprodukt und Zeitgeschichte, die für Braun die „Great American Novel“ in Comicform darstellt.
Allerdings ist die Frankfurter Schau nicht nur kunstgeschichtlich interessant, sondern sie ist auch ein Fest fürs Auge. Viele der gezeigten Strips haben Liebhaber möglicherweise schon in Anthologien oder Katalogen gesehen – aber erst in der Originalgröße entfalten sie ihre volle Wirkung: also im Zeitungsformat und im Falle der ausschließlich aus Privatsammlungen stammenden Originalzeichnungen oft auf noch größerem Papier, auf dem die enorme zeichnerische Sicherheit und elegante Strichführung der Künstler erst richtig zur Geltung kommt.
Die Vehemenz, mit der diese Ausstellung eine Gleichberechtigung des Comics mit anderen Künsten einfordert, ergibt sich auch aus den biografischen Essays, mit denen Braun jeden der sechs Künstler im Katalog vorstellt. So spiele für Lyonel Feininger, der in New York aufwuchs und als Jugendlicher mit seiner Familie nach Berlin übersiedelte, die 1906 begonnene Arbeit an seinen innovativen Comicserien „The Kin-der-Kids“ und „Wee Willie Winkie’s World“ für die „Chicago Tribune“ auch nach eigenem Bekunden des Künstlers eine Schlüsselrolle für seine weitere Entwicklung als Maler, auch wenn seine Comic-Periode nur ein Jahr dauerte. In der kunsthistorischen Würdigung Feiningers sei dieser Aspekt aber lange völlig unterschlagen worden.
Und der heutzutage auch Comic-Kennern weitgehend unbekannte Charles Forbell habe mit seinem Strip „Naughty Pete“ (1913), der alltägliche Missgeschicke eines kleinen Jungen auf grafisch experimentelle Weise schildert, spätere künstlerische Entwicklungen vorweggenommen, sei aber von der Kunstgeschichte komplett ignoriert worden, sodass in seinem Fall die Rekonstruktion seines Lebens und seines Werkes nur bruchstückhaft möglich ist.
Ein weiterer Umstand, der auch dem Besucher schmerzlich vor Augen führt, wie schlecht es lange auch um die archivarische Würdigung dieser Kunstform stand: Zahlreiche der Zeitungsseiten sind von Säure angefressen, denn erst in den vergangenen Jahren begannen Pioniere wie Braun, die oft nur wenigen erhaltenen Exemplare der einst in Millionenauflagen verbreiteten Zeitungen zu sammeln und so zu behandeln, dass der Verfall zumindest verlangsamt werden kann. Braun appelliert an Museen und andere Kulturinstitutionen, sich dieser Herausforderung anzunehmen. Denn von vielen Sammlern, denen man die Erhaltung dieser Werke bislang größtenteils zu verdanken habe, sei in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten: „Wenn die vor der Wahl stehen, zehn weitere Seiten zu kaufen oder das Geld in die Konservierung von Seiten zu stecken, die sie schon besitzen, dann kaufen sie lieber neue Seiten.“
Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde. Schirn Kunsthalle Frankfurt, bis 18. September. Katalog bei Hatje Cantz, 272 Seiten, 400 Abbildungen, 30 Euro im Museum, 35 Euro im Buchhandel.
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