Morrissey live in Berlin: Ich wünsch dir Einsamkeit
Morrissey hat sein im November erscheinendes Album „Low In High School“ im Berliner SchwuZ vorgestellt.
Steven Patrick Morrissey ist erst 58, aber nach den allzu vielen und zum Teil bestürzend jungen Pop-Toten der letzten Jahre darf man schon mal froh sein, dass er noch unter uns weilt. Offenbar ist der einstige Sänger der legendären Indiepop- Band The Smiths auch nicht gewillt, einen angesichts seiner Lebensleistung verdienten Vorruhestand in einer seiner Immobilien in Rom, Los Angeles oder der Schweiz zu genießen.
Ganz im Gegenteil, Morrissey ist für jemanden, der in der jüngeren Vergangenheit mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, bemerkenswert umtriebig: Von der Rastlosigkeit eines Bob Dylan mag er noch ein Stück entfernt sein, doch die Regelmäßigkeit, mit der er in Berlin Station macht, erstaunt selbst seine Anhänger. Für eine Arte-Aufzeichnung gastiert er im SchwuZ, für die Fans willkommener Anlass, den Meister in intimerem Rahmen als bei den sonst üblichen Open-Air- oder Hallenkonzerten zu erleben, für Morrissey Gelegenheit, sein im November erscheinendes neues Album vor Kennerpublikum zu testen.
Ein Kind mit Beil vor dem Buckingham Palast
Tatsächlich bestreitet Morrissey, unterstützt von seiner fünfköpfigen, wie immer einheitliche Bühnenkleidung tragenden Begleitband, fast die Hälfte des einstündigen Sets mit Stücken seines elften Soloalbums. Schon das Coverfoto von „Low In High School“, ein Junge mit „Axe the Monarchy“-Plakat, der sich mit einem Beil am Gitter des Buckingham-Palasts zu schaffen macht (angeblich gibt es schon Handelsketten, die die Platte nicht verkaufen wollen), lässt keinen Zweifel daran, dass sich der bekennende Antimonarchist und Brexit-Befürworter seine politische Angriffslustigkeit bewahrt hat.
Die sorgt ja immer wieder für Irritationen, gerade unter einer sich tendenziell eher links einordnenden Anhängerschaft. Dass einer Zwischenruferin, die in das von Morrissey hingehaltene Mikro „Fuck AfD“ plärrt, weder von der Bühne noch vom Auditorium viel Sympathie entgegengebracht wird, ist weniger mit politischem Dissens zu erklären als damit, dass dieser Akt der Unsubtilität als unangemessen empfunden wird.
"Meat Is Murder" mal ohne Gruselvideo
Zunächst aber kommt man in den Genuss einer der gewohnt launigen Begrüßungsformeln Morrisseys: „There’s a great cloud over Berlin it is me!“, ehe er sich mit heiserer, etwas angegriffen wirkender Stimme in das knurrige „Alma Matters“ wirft – einem von nur zwei Stücken aus seinem Soloschaffen vor 2005. Das andere – „Speedway“ vom Album „Vauxhall And I“– ist ein Höhepunkt des Auftritts, mit kraftvoll federndem Groove, ohrenzerrendem Gitarrengemalme und kollektivem Instrumentenwechsel mitten im Stück, nach dem Keyboarder Gustavo Manzur ein paar Verse auf Spanisch singen darf. Es folgt das hymnische „Throwing My Arms Around Paris“, ein weiterer Fan-Favorit, aber auch schon der letzte des Auftritts – es sei denn, man zählt den unvermeidlichen Depribrecher „Meat Is Murder“ dazu, Morrisseys anticarnivorischen Signature Song, der diesmal ohne Videos von in Schlachthöfen gemetzelten Tieren auskommen muss. Was dieser auch gut schafft, denn in seiner moralisch- musikalischen Hammer-trifft-Amboss- Wucht bleibt dieses Smiths-Lied aus dem Jahr 1985 unerreicht.
Ein Indie-Bolero mit Twang-Gitarre
Im Vergleich dazu fallen die krampfhaft um Originalität bemühten (Didgeridoo!) Stücke seines vorletzten Albums „World Peace Is None Of Your Business“ und auch die neuen Songs etwas ab. „I Wish You Lonely“ ist ein hübsches kleines Abrechnungslied mit der/dem Ex, die in Morrisseys Heimat kommerziell unterperformende (Platz 168 in den Charts) Single „Spent The Day In Bed“ propagiert den Rückzug ins Private, das irreführend betitelte „My Love, I’d Do Anything For You“ ist von bemerkenswerter Schroffheit, das lennonesk klavierklimpernde „All The Young People Must Fall In Love“ verbindet friedensbewegte Demotauglichkeit mit Morrisseys Sarkasmus. „When You Open Your Legs“ ist ein Indie-Bolero mit Twang-Gitarre und das supermelodische „Home Is A Question Mark“ besitzt mit Schellenkranz und einem irgendwo – aber wo? – schon mal gehörten Gitarrenintro klassisches Britpop-Format.
Insgesamt wirkt der Songwriter Morrissey auf den neuen Stücken auf der Höhe seines Könnens, wobei die Beschränkung auf das klassische Indierock-Bandformat auf Dauer limitierend wirkt. Natürlich sind auf der Bühne genau wie auf Morrisseys Platten exzellente Musiker am Werk. Doch für diese Stimme, die trotz ihrer Abnutzungserscheinungen immer noch zu den schönsten und unverwechselbarsten der Popmusik zählt, würde man sich mal einen musikalischen Neustart wünschen. Muss ja nicht gleich Rick Rubin sein. Wird aber wohl nicht passieren.
Im SchwuZ jubelt das Publikum nach dem etwas belanglosen Pretenders-Cover „Back On The Chain Gang“ minutenlang nach einer Zugabe. Vergebens.
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