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Verpanzert gegen übergroße Erwartungen. Nadja Tolokonnikowa.
© dpa

Pussy Riot: „Ich streite nicht gerne über Begriffe“

Nadja Tolokonnikowa von der Punkband Pussy Riot stellt im Maxim Gorki Theater ihr Buch „Anleitung für eine Revolution“ vor. Die 26-Jährige hat viel erlebt.

Mit echten Kontroversen hatte hier wohl niemand gerechnet. Nadja Tolokonnikowa, das Poster-Girl des Putin-Widerstands, trifft im ausverkauften Maxim- Gorki-Theater auf jubelnde Fans und den oppositionellen Philosophen Michail Ryklin - was soll da schon schiefgehen?

So einiges, wie sich herausstellen wird. Aber davon ist noch nichts zu ahnen, als Tolokonnikowa die Bühne betritt, frenetisch begrüßt von überwiegend sehr jungen Zuhörern.

Bevor sie zu Wort kommt, kommt ihr Buch zum Vortrag: Eine Gorki-Schauspielerin liest auf Deutsch Passagen aus Tolokonnikowas „Anleitung für eine Revolution“ vor. Die Rede ist vom Geburtstag der Heldin am 7. November, dem Jahrestag der Bolschewistischen Revolution, einst ein Feiertag in Russland, den Putin nach seinem Amtsantritt abschaffte: „Das war das Erste, was ich ihm übelnahm.“. Fragmentarisch geht es weiter: Die Gründung der feministischen Punkband „Pussy Riot“, die ersten Auftritte in Abrisshäusern und Fußgängerunterführungen, schließlich der 21. November 2012, als Pussy Riot die Moskauer Christ-Erlöser-Kirche stürmten und nach dem wohl kürzesten Auftritt der Punk-Geschichte (40 Sekunden) verhaftet wurden, gefolgt von einem Gerichtsprozess, der für Tolokonnikowa mit anderthalb Jahren Straflager endete.

Nicht jede 26-Jährige habe so viel erlebt, erklärt Michail Ryklin, um Tolokonnikowa zu fragen, wie die Knast-Erfahrung sie geprägt habe. Die antwortet, dass sie jetzt morgens gerne ausschlafe. Und das Leben mehr genieße. Dann schweigt sie. Ryklin stutzt, wartet, ob da noch mehr kommt. Kommt aber nicht, und dieses Muster wird sich wiederholen, ein enttäuschtes Warten auf Mehr prägt den Abend. Tolokonnikowa, so drückt es nach dem Gespräch eine kluge Zuhörerin im Foyer aus, scheint sich im Gefängnis gegen vieles verpanzert zu haben, auch gegen übersteigerte Erwartungen an ihre Person.

Sphinxhaft weicht sie aus, erklärt, dass sie nichts so sehr fürchte wie den Ernst, will schließlich auch das Wort „Revolution“ im Buchtitel nicht so gewichtig gemeint haben, wie es klinge. „Das ist ein ironischer Begriff aus der Pop-Kultur.“

Rykin will Tolokonnikowa zur Positionierung zwingen

Ryklin, der diese Strategie lange nicht begreift, versucht stur, Tolokonnikowa zur intellektuellen Positionierung zu zwingen. Wie schlecht das funktioniert, wird spätestens bei der Penis-Frage klar. Ryklin zitiert eine Passage, in der Tolokonnikowa ihren kindlichen Phallusneid beschreibt. Was denn der Unterschied zwischen Phallus und Penis sei, will Ryklin wissen. „Ich streite nicht gerne über Begriffe. Ich glaube, das Wort ,Phallus' haben sich die Philosophen ausgedacht, um nicht ,Penis' sagen zu müssen.“ Gelächter im johlenden Frequenzbereich. Ryklin sieht nicht glücklich aus.

Immer noch um Haltung bemüht, fragt er schließlich, ob sich Tolokonnikowa in ihrer Kritik an der Orthodoxen Kirche mit anderen russischen Intellektuellen verbunden fühle. Es ist seine eigene Lebensgeschichte, auf die Ryklin hier Bezug nimmt: Seine Frau, die Künstlerin Anna Altschuk, wurde 2003 in Moskau der „Verletzung religiöser Gefühle“ bezichtigt, nachdem sie sich an einer kirchenkritischen Ausstellung beteiligt hatte, die von orthodoxen Eiferern verwüstet worden war. Altschuk wird freigesprochen, doch der Prozess setzt derart zu, dass sie 2007 mit ihrem Mann nach Berlin auswandert. Ein halbes Jahr später wird sie tot gefunden, mutmaßlich infolge eines Suizids. Ryklin verarbeitete die Geschichte 2014 im „Buch über Anna“.

Den Wenigsten im Publikum scheinen diese Hintergründe bewusst zu sein. Sollte Tolokonnikowa sie kennen, lässt sie es sich nicht anmerken. Wieder geht ihre Antwort komplett an Ryklins Frage vorbei, stattdessen spricht sie von einem Pussy-Riot-Song, über dessen drastischem Titel die Dolmetscherin stolpert.

Am Ende herrscht Ratlosigkeit. Dass sich auf einer Berliner Bühne zwei erklärte Putin-Gegner begegnen können, die trotz allem Verbindendem nicht den Ansatz einer gemeinsamen Sprache finden, lässt nichts Gutes hoffen. Die russische Revolution wirkt ferner denn je nach diesem Abend.

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