"Buch über Anna" von Michail Ryklin: Im Hafen des Dionysos
Überlebensbericht: Der russische Philosoph Michail Ryklin hat ein Buch über den Selbstmord seiner Frau Anna geschrieben.
Es geschieht am Karfreitag 2008. Schneeregen in Berlin. Der russische Philosoph Michail Ryklin und seine Ehefrau Anna sind gerade übermüdet von einer Interviewreise zurückgekehrt. Ryklin vertieft sich in ein Buch, während seine Frau mit zwei Freundinnen telefoniert. Danach meint sie, dass sie noch mal kurz wegwolle, Waschpulver kaufen. Eine Ankündigung, so banal und alltäglich, dass der Ehemann sie kaum registriert und auch nicht stutzig wird, weil ja eigentlich Feiertag ist. Die Geschäfte haben geschlossen. Da klackt schon die Haustür. Drei Stunden später wird alles anders sein. Wird sich die „Bodenlosigkeit“ vor Ryklin auftun, wie er schreibt.
Seine Frau, die Lyrikerin Anna Altschuk, wie sie sich als Künstlerin nannte, kommt an diesem Karfreitag nicht wieder zurück. Erst drei Stunden später bemerkt ihr Mann, dass sie ihr Handy vergessen hat. Eine böse Ahnung steigt in ihm auf. Noch in der Nacht sucht er Straßen und Bahnhöfe ab, alarmiert die Polizei. Doch seine Frau bleibt auch die nächsten drei Wochen verschwunden, bis man am 10. April schließlich ihre Leiche aus der Spree birgt.
Ein furchtbarer Anblick. Die beiden Beamten, die Ryklin benachrichtigen, lassen ihn nicht aus den Augen. „Wer weiß, was Menschen in einem solchen Zustand alles mit sich machen.“ Und als wäre der Tod der Ehefrau nicht schon Albtraum genug, bekommt es Ryklin außerdem mit Reportern zu tun, deren Auftreten er als „invasiv“ und „schamlos“ empfindet – und die Anna Altschuk schnell auf eine schlagzeilenträchtige „Putin-Kritikerin“ oder gar „Nacktkünstlerin“ ("Bild") reduzieren, obwohl sie doch vor allem Dichterin war.
Seit 33 Jahren war kaum ein Tag vergangen, an dem das Paar nicht mehrere Stunden miteinander geredet hat
„Das war einer der unangenehmsten Momente“, erinnert sich Ryklin in seinem „Buch über Anna“, „das Eindringen der Massenmedien in etwas, das noch vor kurzem als mein privates Leben erschien.“ Zumal deutsche und russische Journalisten den Tod Altschuks politisch deuteten. Viele erinnerten sich an den Moskauer Skandalprozess von 2004, als sie wegen ihrer Teilnahme an der Kunstausstellung „Achtung, Religion!“ wegen Verletzung religiöser Gefühle monatelang auf der Anklagebank saß, allerdings überraschend freigesprochen wurde. Einige Presseleute vermuteten im April 2008 daraufhin ein Attentat orthodoxer Fanatiker. Andere hielten einen Selbstmord der Emigrantin, die in Russland bis zuletzt als Satanistin beschimpft wurde, für wahrscheinlicher. Auch Michail Ryklin ist mittlerweile vom Suizid seiner Frau überzeugt.
Der Prozess und die Hetze gegen sie, glaubt er, habe Anna auf Dauer nicht verkraftet. („Die Dosis an Volkes Irrsinn, den sie abbekam, war zu hoch.“) Die simple Dreierformel Dissidenz = Depression = Selbstmorddrama, auf die man den Fall in den Medien brachte, lässt er aber nicht gelten. Ihm geht es um eine viel differenziertere Analyse, die die Einmaligkeit jeden Schicksals betont und der Verstorbenen auch ein Stück Würde zurückgeben will.
Immerhin war Michail Ryklin mit seiner Frau Anna 33 Jahre lang verheiratet. Als beide sich 1973 kennenlernen, ist sie gerade mal 18, er 25. Und seitdem, so der trauernde Witwer, sei kaum ein Tag vergangen, an dem das Paar nicht mehrere Stunden miteinander geredet habe. Seine Frau Anna nennt die symbiotische Beziehung in ihrem Tagebuch einmal „Liebesfreundschaft“. Darin hat die Dichterin nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihre Träume notiert. Nicht weniger als 27 Hefte findet Ryklin nach der Beerdigung in der Moskauer Wohnung. Als er anfängt darin zu lesen, stellt er aber überrascht fest, dass er seine Frau doch weniger kannte, als er dachte. Nicht nur, dass sie ihm jahrelang ihren Blutzucker verschwieg. Mit Erstaunen liest er auch, wie abhängig sich Anna von ihm fühlte. Wie verzweifelt sie um Befreiung von ihm als übermächtigem „Ödipus“ rang. Ryklin ist konsterniert. „Was für ein Mensch war meine Frau?“, fragt er sich und versucht, schreibend Antworten darauf zu finden.
Spricht aus Anna Klagen das zeitlose Drama einer Schriftstellerehe?
Man liest Ryklins „Buch über Anna“ schon deshalb mit angehaltenem Atem, weil es der Überlebensbericht eines Mannes ist, der durch den Suizid seiner Frau zutiefst in seiner Identität erschüttert wird. Von daher unterscheidet es sich grundlegend von früheren Büchern des postmodern geschulten Philosophen, in denen er die russische Gesellschaft seit Stalin kritisch reflektiert hat. Zuerst hatte er offenbar gar nicht vor, seine Trauernotizen zu veröffentlichen. Dann aber erinnerte er sich an Roland Barthes’ Fotografie-Essay „Die helle Kammer“. Dessen fragmentarisch-assoziative Form hat er für sein Buch nun übernommen. Und so entsteht aus seinen nicht chronologisch geordneten Betrachtungen das kaleidoskopartige Porträt einer Künstlerin voller Widersprüche.
Problematisch ist allerdings, dass Ryklin nicht nur aus Annas Tagebüchern zitiert, sondern sich auch zu ihrem Traum- und Seelendeuter aufschwingt. Da kommentiert er etwa eine Liebesaffäre seiner Frau mit einem russischen Schriftsteller. Oder bescheinigt ihr eine „depressive“ Veranlagung, inklusive der „tödlichen Angst“, an seiner Seite zur „Bloß-Ehefrau“ herabzusinken. Das liest sich zwar plausibel. Doch streng genommen fehlt ihm für solche psychoanalytischen Befunde der nötige Abstand.
Dennoch sind es gerade die Tagebuchpassagen, die Ryklins Buch so eindringlich machen. Denn man begegnet einer hochsensiblen, talentierten, klugen Frau, die merkwürdig zwischen ihren Ansprüchen hin- und hergerissen zu sein scheint. Einerseits leidet sie unter dem Erfolg ihres Mannes, wirft ihm andererseits aber mangelnden Ehrgeiz vor. Einerseits beschwört sie ihre Liebe, glaubt sich andererseits als Feministin von ihm distanzieren zu müssen. Einerseits sehnt sie sich nach Autonomie, ist andererseits aber nicht in der Lage, selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Ryklins Buch plädiert dafür, der mutmaßlich selbstgewählten Entscheidung für den Suizid Respekt zu zollen
Kurz: Anna Altschuk beklagt in ihren Tagebüchern ein Dilemma, das bis in die Formulierungen hinein („Anhang zu was auch immer“, „bloß Ehefrau“) verblüffend viel Ähnlichkeit mit jener „Entscheidungshölle“ besitzt, in der sich auch schon ihre Dichterkollegin Sylvia Plath gefangen sah – allerdings vor mehr als 50 Jahren. Und so fragt man sich unwillkürlich: Sind die Schlachten der Emanzipation womöglich immer noch nicht geschlagen? Oder spricht aus Annas Klagen vielleicht doch eher das zeitlose Drama einer Schriftstellerehe, in der schnell Konkurrenzgefühle aufkommen?
In jedem Fall aber gelingt es Ryklin darzulegen, dass das tragische Ende seiner Frau nicht allein mit Heimweh und ihrer traumatischen Prozesserfahrung erklärt werden kann. Darüber hinaus ist sein Buch ein mutiges Plädoyer dafür, der mutmaßlich selbstgewählten Entscheidung für den Suizid Respekt zu zollen. Seine Frau nämlich, betont Ryklin, sah im Tod keineswegs einen Endpunkt, sondern vielmehr einen „Hafen des Dionysos“, wie sie es in einem Gedicht formulierte. Einen Ort also, an dem die Seele Ruhe findet. Das mag in unserer säkularen Gesellschaft, wo der Himmel gemeinhin nur auf Erden zu haben ist, eine antiquierte und für manchen lächerliche Vorstellung sein. Es klingt jedoch umso anrührender, wenn der aufgeklärte Philosoph schließlich einräumt, dass er den Glauben Annas an transzendente Erlösung mit Vernunftgründen nicht widerlegen könne. Und von daher offenlassen muss, ob ihr Weg ins eiskalte Spreewasser für sie womöglich der richtige war.
Michail Ryklin: Buch über Anna.Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.334 Seiten, 24,95 €.
Gisa Funck